Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 316

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sinnige „Eppur si muove!” (Und sie bewegt sich doch!) Galileo Galileis nicht eine ebensolche leere Demonstration, ohne andere praktische Wirkung als die Rache der Heiligen Inquisition an dem gefolterten und eingekerkerten Manne? Und doch ist für Tausende von Menschen, die von der kopernikanischen Lehre nur die nebelhafteste Vorstellung haben, der Name Galileis für immer an jene schöne Geste geknüpft, an der es ganz nebensächlich ist, daß sie nicht einmal stattgefunden hat. Eben die Legenden, mit denen die Menschheit ihre Helden zu schmücken liebt, sind ein Beweis, wie sehr ihr dergleichen „leere Demonstrationen”, trotz ihres unwägbaren materiellen Nutzens, im geistigen Gesamthaushalt ein unentbehrlicher Posten sind.

Vier Jahre mußte Korolenko für seine Eidesverweigerung in einer elenden Niederlassung halbwilder Nomaden am Ufer desAldan, eines Nebenflusses der Lena, mitten im sibirischen Urwald bei Wintertemperaturen von 40 bis 45 Kältegraden büßen. Doch alle Entbehrungen, Einsamkeit, die düstere Szenerie der Taiga, elende Umgebung, Abgeschiedenheit von der Kulturwelt vermochten der geistigen Elastizität und dem sonnigen Temperament Korolenkos nichts anzuhaben. Er nimmt eifrig an dem kümmerlichen Leben und den Interessen der Jakuten teil, ackert fleißig, mäht Heu und melkt Kühe, im Winter verfertigt er für die Eingeborenen Schuhwerk oder auch Heiligenbilder. Über diese Periode des „Lebendigbegrabenseins”, wie George Kennan das Dasein der Verbannten von Jakutsk nannte, berichtet Korolenko später in seinen Skizzen ohne Klage, ohne jede Bitterkeit, ja mit Humor, in Bildern von zartester poetischer Schönheit. Sein dichterisches Talent reift indessen, und er sammelt eine reiche Beute an Natureindrücken und psychologischen Beobachtungen.

1885, endlich zurückgekehrt aus der Verbannung, die ihn mit kurzer Unterbrechung fast zehn Jahre seines Lebens gekostet hat, veröffentlicht er eine kleine Erzählung, die ihn mit einem Schlage unter die Meister der russischen Literatur reiht – „Makars Traum”. In der bleiernen Atmosphäre der 80er Jahre wirkte diese erste ganz reife Frucht des jungen Talents wie das erste Lerchenlied an einem grauen Februartag. In rascher Folge reihten sich nun weitere Skizzen und Erzählungen an: „Aufzeichnungen eines sibirischen Touristen”, „Der Wald rauscht”, „Dem Heiligenbilde nach”, „In der Nacht”, „Jom Kippur”, „Der Fluß schäumt” und viele andere. Sie alle weisen dieselben Grundzüge des Korolenkoschen Schaffens auf: zauberhafte Landschafts- und Stimmungsmalerei, liebenswürdige, frische Natürlichkeit und warmherziges Interesse für die „Erniedrigten und Enterbten”.

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