Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 319

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Abhandlung abwechselnd dazu dienten, einer neuen Weltanschauung die Bahn zu brechen. Nur daß Lessing, was die Tragik seines Schicksals war, ein Einsamer und Unverstandener zeitlebens blieb, während in Rußland eine lange Reihe hervorragender Talente die verschiedensten Domänen der Literatur abwechselnd als Vorkämpfer einer freien Weltanschauung beackerten. Alexander von Herzen vereinigte mit einem namhaften Talent als Romanschriftsteller eine geniale journalistische Feder und verstand es, mit seiner „Glocke” in den 50er und 60er Jahren vom Auslande aus das ganze denkende Rußland wachzuläuten. Der alte Hegelianer Tschernyschewski tummelte sich mit gleicher Frische und Kampflust auf dem Gebiete der publizistischen Polemik, des philosophischen Traktats, der nationalökonomischen Abhandlung und des Tendenzromans. Die literarische Kritik als ein hervorragendes Mittel, die Reaktion in allen ihren Schlupfwinkeln zu bekämpfen und eine fortschrittliche Ideologie systematisch zu propagieren, fand nach Belinski und Dobroljubow einen glänzenden Vertreter in Michailowski, der jahrzehntelang die öffentliche Meinung beherrschte und namentlich auch auf die geistige Entwicklung Korolenkos einen großen Einfluß ausübte. Tolstoi hat sich neben dem Roman, der Erzählung und dem Drama des moralisierenden Märchens und des polemischen Pamphlets für seine Ideen bedient. Korolenko seinerseits vertauschte immer wieder Pinsel und Palette des Künstlers mit der Klinge des Journalisten, um zu aktuellen Fragen des sozialen Lebens Stellung zu nehmen und in die Kämpfe des Tages unmittelbar einzugreifen.

Zu den ständigen Einrichtungen des alten zaristischen Rußlands gehört chronische Hungersnot so gut wie Trunksucht, Analphabetentum und Budgetdefizit. Als eine Frucht der eigentümlich gestalteten „Bauernreform” bei der Aufhebung der Leibeigenschaft[1], der erdrückenden Steuerlast und der äußersten Rückständigkeit der landwirtschaftlichen Technik suchte die Mißernte alle paar Jahre während des ganzen achten Dezenniums die Bauernschaft heim. Das Jahr 1891 brachte die Krönung: In 20 Gouvernements folgte auf eine außerordentliche Dürre totale Mißernte und eine Hungersnot von wahrhaft alttestamentarischen Dimensionen.

In der offiziellen Enquete über den Ausfall der Ernte befand sich unter den mehr als siebenhundert Antworten aus den verschiedensten Gegenden die folgende Schilderung aus der Feder eines schlichten Geistlichen eines der zentralen Gouvernements:

„Seit drei Jahren schleicht sich die Mißernte heran, ein Ungemach nach dem andern kommt über den Landmann. Die Raupenplage ist da, Heu-

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[1] Die Niederlage Rußlands im Krimkrieg 1853 bis 1856 hatte die innenpolitische Situation so verschärft, daß die herrschende Klasse zwischen 1861 und 1870 eine Reihe von Reformen durchführen mußte, die zwar unvollständig und mit feudalen Überresten behaftet waren, dennoch die kapitalistische Entwicklung in Rußland vorantrieben. Die wichtigsten Reformen betrafen die Aufhebung der Leibeigenschaft (1861), die Bildung ländlicher und städtischer Selbstverwaltungsorgane (1864), Veränderungen im Volksbildungs- (1863) und Gerichtswesen (1864) sowie in der Zensur (1865).