Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 133

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Schwächung der Wehrkraft der Nation sein soll. Von diesem Geschrei hat sich die offizielle Sozialdemokratie verblüffen lassen. Und doch zeigte die moderne Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft auf Schritt und Tritt, daß ihr die fremde Invasion nicht der Greuel aller Greuel, als welcher sie heute hingemalt wird, sondern ein mit Vorliebe angewandtes und erprobtes Mittel gegen den „inneren Feind” ist. Riefen nicht die Bourbonen und die Aristokraten Frankreichs die Invasion ins Land gegen die Jakobiner? Rief die österreichische und kirchenstaatliche Konterrevolution nicht 1849 die französische Invasion gegen Rom, die russische gegen Budapest? Drohte nicht in Frankreich die „Ordnungspartei” 1850 offen mit der Invasion der Kosaken, um die Nationalversammlung kirre zu machen? Und wurde nicht durch den famosen Vertrag vom 18. Mai 1871 zwischen Jules Favre, Thiers & Co. und Bismarck die Freilassung der gefangenen bonapartistischen Armee und die direkte Unterstützung der preußischen Truppen zur Ausrottung der Kommune von Paris abgemacht? Für Karl Marx genügte diese geschichtliche Erfahrung, um schon vor 45 Jahren die „nationalen Kriege” der modernen bürgerlichen Staaten als Schwindel zu entlarven. In seiner berühmten Adresse des Generalrats der Internationale zum Fall der Pariser Kommune sagt er:

„Daß nach dem gewaltigsten Krieg der neuern Zeit die siegreiche und die besiegte Armee sich verbünden zum gemeinsamen Abschlachten des Proletariats – ein so unerhörtes Ereignis beweist, nicht wie Bismarck glaubt, die endliche Niederdrückung der sich emporarbeitenden neuen Gesellschaft, sondern die vollständige Zerbröcklung der alten Bourgeoisgesellschaft. Der höchste heroische Aufschwung, dessen die alte Gesellschaft noch fähig war, ist der Nationalkrieg, und dieser erweist sich jetzt als reiner Regierungsschwindel, der keinen andern Zweck mehr hat, als den Klassenkampf hinauszuschieben, und der beiseite fliegt, sobald der Klassenkampf im Bürgerkrieg auflodert. Die Klassenherrschaft ist nicht länger imstande, sich unter einer nationalen Uniform zu verstecken; die nationalen Regierungen sind eins gegenüber dem Proletariat!”[1] [Hervorhebung – R. L.]

Invasion und Klassenkampf sind also in der bürgerlichen Geschichte nicht Gegensätze, wie es in der offiziellen Legende heißt, sondern eins ist Mittel und Äußerung des anderen. Und wenn für die herrschenden Klassen die Invasion ein erprobtes Mittel gegen den Klassenkampf darstellt, so hat sich für die aufstrebenden Klassen der schärfste Klassenkampf noch

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[1] Karl Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 17, S. 360 f.