Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 134

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immer als das beste Mittel gegen die Invasion erwiesen. An der Schwelle der Neuzeit zeigt schon die stürmische, von zahllosen inneren Umwälzungen und äußeren Anfeindungen aufgewühlte Geschichte der Städte, namentlich der italienischen, die Geschichte von Florenz, von Mailand mit ihrem hundertjährigen Ringen gegen die Hohenstaufen, daß die Gewalt und das Ungestüm der inneren Klassenkämpfe die Abwehrkraft des Gemeinwesens nach außen nicht bloß nicht schwächen, sondern daß im Gegenteil erst aus der Esse dieser Kämpfe die mächtige Lohe aufsteigt, die stark genug ist, jedem feindlichen Anprall von außen Trotz zu bieten. Aber das klassische Beispiel aller Zeiten ist die Große Französische Revolution. Wenn je, so galt für das Frankreich des Jahres 1793, für das Herz Frankreichs, Paris: Feinde ringsum! Wenn Paris und Frankreich der Sturmflut des koalierten Europas, der Invasion von allen Seiten damals nicht erlegen waren, sondern sich im Verlaufe des beispiellosen Ringens mit demWachsen der Gefahr und des feindlichen Angriffs zu immer gigantischerem Widerstand emporrafften, jede neue Koalition der Feinde durch erneute Wunder des unerschöpflichen Kampfmuts aufs Haupt schlugen, so war es nur der schrankenlosen Entfesselung der inneren Kräfte der Gesellschaft in der großen Auseinandersetzung der Klassen zu danken. Heute, aus der Perspektive eines Jahrhunderts, ist es deutlich sichtbar, daß nur der schärfste Ausdruck jener Auseinandersetzung, daß nur die Diktatur des Pariser Volkes und ihr rücksichtsloser Radikalismus aus dem Boden der Nation Mittel und Kräfte zu stampfen vermocht haben, die ausreichend waren, die neugeborene bürgerliche Gesellschaft gegen eine Welt von Feinden zu verteidigen und zu behaupten: gegen die Intrigen der Dynastie, die landesverräterischen Machinationen der Aristokraten, die Zettelungen des Klerus, den Aufstand der Vendée, den Verrat der Generäle, den Widerstand von sechzig Departements und Provinzialhauptstädten und gegen die vereinigten Heere und Flotten der monarchischen Koalition Europas. Wie Jahrhunderte bezeugen, ist also nicht der Belagerungszustand, sondern der rücksichtslose Klassenkampf, der das Selbstgefühl, den Opfermut und die sittliche Kraft der Volksmassen wachrüttelt, der beste Schutz und die beste Wehr des Landes gegen äußere Feinde.

Dasselbe tragische Quidproquo passierte der Sozialdemokratie, wenn sie sich zur Begründung ihrer Haltung in diesem Kriege auf das Selbstbestimmungsrecht der Nationen beruft. Es ist wahr: Der Sozialismus gesteht jedem Volke das Recht auf Unabhängigkeit und Freiheit, auf selbständige Verfügung über die eigenen Geschicke zu. Aber es ist ein wahrer

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