Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 135

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Hohn auf den Sozialismus, wenn die heutigen kapitalistischen Staaten als der Ausdruck dieses Selbstbestimmungsrechts der Nationen hingestellt werden. In welchem dieser Staaten hat denn die Nation bis jetzt über die Formen und Bedingungen seines nationalen, politischen oder sozialen Daseins bestimmt?

Was die Selbstbestimmung des deutschen Volkes bedeutet, was sie will, das haben die Demokraten von 1848, das haben die Vorkämpfer des deutschen Proletariats Marx, Engels und Lassalle, Bebel und Liebknecht verkündet und verfochten: Es ist die einige großdeutsche Republik. Um dieses Ideal haben die Märzkämpfer in Wien und Berlin auf den Barrikaden ihr Herzblut verspritzt, zur Verwirklichung dieses Programms wollten Marx und Engels 1848 Preußen zu einem Krieg mit dem russischen Zarismus zwingen. Die erste Erfordernis für die Erfüllung dieses nationalen Programms war die Liquidierung des „Haufens organisierter Verwesung”, genannt Habsburgische Monarchie, und die Abschaffung der preußischen Militärmonarchie sowie der zwei Dutzend Zwergmonarchien in Deutschland. Die Niederlage der deutschen Revolution, der Verrat des deutschen Bürgertums an seinen eigenen demokratischen Idealen führten zum Bismarckschen Regiment und zu dessen Schöpfung: dem heutigen Großpreußen mit den zwanzig Vaterländern unter einer Helmspitze, das sich das Deutsche Reich nennt. Das heutige Deutschland ist auf dem Grabe der Märzrevolution, auf den Trümmern des nationalen Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes errichtet. Der heutige Krieg, der neben der Erhaltung der Türkei die Erhaltung der Habsburgischen Monarchie und die Stärkung der preußischen Militärmonarchie zum Zweck hat, ist eine abermalige Verscharrung der Märzgefallenen und des nationalen Programms Deutschlands. Und es liegt ein wahrhaft teuflischer Witz der Geschichte darin, daß Sozialdemokraten, die Erben der deutschen Patrioten von 1848, in diesen Krieg ziehen – das Banner des „Selbstbestimmungsrechts der Nationen” in der Hand! Oder ist etwa die Dritte Republik mit den Kolonialbesitzungen in vier und mit Kolonialgreueln in zwei Weltteilen ein Ausdruck der „Selbstbestimmung” der französischen Nation? Oder ist es das britische Reich mit Indien und der südafrikanischen Herrschaft einer Million Weißer über fünf Millionen farbiger Bevölkerung? Oder sind es gar die Türkei, das Zarenreich? Nur für einen bürgerlichen Politiker, für den die Herrenrassen die Menschheit und die herrschenden Klassen die Nation darstellen, kann in den Kolonialstaaten überhaupt von einer „nationalen Selbstbestimmung” die Rede sein. Im sozialistischen Sinne dieses Begriffs gibt es keine freie Nation, wenn ihre

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