Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 136

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staatliche Existenz auf der Versklavung anderer Völker beruht, denn auch die Kolonialvölker zählen als Völker und als Glieder des Staates. Der Internationale Sozialismus erkennt das Recht freier, unabhängiger, gleichberechtigter Nationen, aber nur er kann solche Nationen schaffen, erst er kann das Selbstbestimmungsrecht der Völker verwirklichen. Auch diese Losung des Sozialismus ist, wie alle anderen, nicht eine Heiligsprechung des Bestehenden, sondern ein Wegweiser und Ansporn für die revolutionäre, umgestaltende, aktive Politik des Proletariats. Solange kapitalistische Staaten bestehen, namentlich solange die imperialistische Weltpolitik das innere und äußere Leben der Staaten bestimmt und gestaltet, hat das nationale Selbstbestimmungsrecht mit ihrer Praxis im Krieg wie im Frieden nicht das geringste gemein.

Noch mehr: In dem heutigen imperialistischen Milieu kann es überhaupt keine nationalen Verteidigungskriege mehr geben, und jede sozialistische Politik, die von diesem bestimmenden historischen Milieu absieht, die sich mitten im Weltstrudel nur von den isolierten Gesichtspunkten eines Landes leiten lassen will, ist von vornherein auf Sand gebaut.

Wir haben bereits den Hintergrund des jetzigen Zusammenstoßes Deutschlands mit seinen Gegnern aufzuzeigen gesucht. Es war nötig, die eigentlichen Triebfedern und die inneren Zusammenhänge des heutigen Krieges näher zu beleuchten, weil in der Stellungnahme unserer Reichstagsfraktion wie unserer Presse die Verteidigung der Existenz, Freiheit und Kultur Deutschlands die entscheidende Rolle spielte. Demgegenüber muß an der historischen Wahrheit festgehalten werden, daß es sich um einen vom deutschen Imperialismus durch seine weltpolitischen Ziele seit Jahren vorbereiteten und im Sommer 1914 durch die deutsche und österreichische Diplomatie zielbewußt herbeigeführten Präventivkrieg handelt. Darüber hinaus ist bei der allgemeinen Einschätzung des Weltkrieges und seiner Bedeutung für die Klassenpolitik des Proletariats die Frage der Verteidigung und des Angriffs, die Frage nach dem „Schuldigen” völlig belanglos. Ist Deutschland am allerwenigsten in der Selbstverteidigung, so sind es auch Frankreich und England nicht, denn was sie „verteidigen”, ist nicht ihre nationale, sondern ihre weltpolitische Position, ihr von den Anschlägen des deutschen Emporkömmlings bedrohter alter imperialistischer Besitzstand. Haben die Streifzüge des deutschen und österreichischen Imperialismus im Orient den Weltbrand zweifellos entzündet, so hatten zu ihm der französische Imperialismus durch die Verspeisung Marokkos, der englische durch seine Vorbereitungen zum Raub Mesopotamiens und Arabiens wie durch alle Maßnahmen zur Sicherung seiner

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