Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 137

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Zwingherrschaft in Indien, der russische durch seine auf Konstantinopel zielende Balkanpolitik Scheit für Scheit den Brennstoff zusammengeschleppt und aufgeschichtet. Wenn die militärischen Rüstungen eine wesentliche Rolle als Triebfeder zum Losbrechen der Katastrophe gespielt haben, so waren sie ein Wettkampf aller Staaten. Und wenn Deutschland zu dem europäischen Wettrüsten durch die Bismarcksche Politik von 1870 den Grundstein gelegt hatte, so war jene Politik vorher durch die des Zweiten Kaiserreichs begünstigt und nachher durch die militärische koloniale Abenteurerpolitik der Dritten Republik, durch ihre Expansionen in Ostasien und Afrika gefördert.

Die französischen Sozialisten waren in ihre Illusion von der „nationalen Verteidigung” besonders durch die Tatsache hineingetrieben worden, daß die französische Regierung wie das ganze Volk im Juli 1914 nicht die geringsten Kriegsabsichten hatten. „In Frankreich sind heute alle aufrichtig und ehrlich, rückhaltlos und vorbehaltlos für den Frieden”, bezeugte Jaurès in der letzten Rede seines Lebens, am Vorabend des Krieges im Brüsseler Volkshaus. Die Tatsache stimmt vollkommen, und sie kann psychologisch die Entrüstung begreiflich machen, die sich der französischen Sozialisten bemächtigt hatte, als der verbrecherische Krieg ihrem Lande aufgezwungen wurde. Aber zur Beurteilung des Weltkrieges als einer historischen Erscheinung und zur Stellungnahme der proletarischen Politik ihm gegenüber reicht die Tatsache nicht aus. Die Geschichte, aus der der heutige Krieg geboren wurde, begann nicht erst im Juli 1914, sondern sie reicht Jahrzehnte zurück, wo sich Faden an Faden mit der Notwendigkeit eines Naturgesetzes knüpfte, bis das dichtmaschige Netz der imperialistischen Weltpolitik fünf Weltteile umstrickt hatte – ein gewaltiger historischer Komplex von Erscheinungen, deren Wurzeln in die plutonischen Tiefen des ökonomischen Werdens hinabreichen, deren äußerste Zweige in die undeutlich heraufdämmernde neue Welt hinüberwinken, Erscheinungen, bei deren umfassender Größe die Begriffe von Schuld und Sühne, von Verteidigung und Angriff wesenlos verblassen.

Die imperialistische Politik ist nicht das Werk irgendeines oder einiger Staaten, sie ist das Produkt eines bestimmten Reifegrads in der Weltentwicklung des Kapitals, eine von Hause aus Internationale Erscheinung, ein unteilbares Ganzes, das nur in allen seinen Wechselbeziehungen erkennbar ist und dem sich kein einzelner Staat zu entziehen vermag.

Von hier aus kann erst die Frage der „nationalen Verteidigung” im heutigen Kriege richtig gewertet werden. Der Nationalstaat, nationale

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