Einheit und Unabhängigkeit, das war das ideologische Schild, unter dem sich die bürgerlichen Großstaaten in Mitteleuropa im vorigen Jahrhundert konstituierten. Der Kapitalismus kann sich mit der Kleinstaaterei, mit wirtschaftlicher und politischer Zersplitterung nicht vertragen, er bedarf zu seiner Entfaltung eines möglichst großen, innerlich geschlossenen Gebietes und einer geistigen Kultur, ohne die weder die Bedürfnisse der Gesellschaft auf das der kapitalistischen Warenproduktion entsprechende Niveau gehoben werden noch der Mechanismus der modernen bürgerlichen Klassenherrschaft funktionieren kann. Bevor der Kapitalismus zur erdumspannenden Weltwirtschaft sich auswachsen konnte, suchte er sich in den nationalen Grenzen eines Staates ein geschlossenes Gebiet zu schaffen. Dieses Programm ist – da es sich auf dem vom feudalen Mittelalter überwiesenen politischen und nationalen Schachbrett nur auf revolutionärem Wege durchführen ließ – in Frankreich allein, in der großen Revolution, verwirklicht worden. Im übrigen Europa ist es, wie die bürgerliche Revolution überhaupt, Stückwerk geworden, auf halbem Wege stehengeblieben. Das Deutsche Reich und das heutige Italien, der Fortbestand Österreich-Ungarns und der Türkei bis heute, das russische Reich und das britische Weltreich sind dafür lebendige Beweise. Das nationale Programm hatte nur als ideologischer Ausdruck der aufstrebenden, nach der Macht im Staate zielenden Bourgeoisie eine geschichtliche Rolle gespielt, bis sich die bürgerliche Klassenherrschaft in den Großstaaten Mitteleuropas schlecht und recht zurechtgesetzt, sich in ihnen die nötigen Werkzeuge und Bedingungen geschaffen hat.
Seitdem hat der Imperialismus das alte bürgerlich-demokratische Programm vollends zu Grabe getragen, indem er die Expansion über nationale Grenzen hinaus und ohne jede Rücksicht auf nationale Zusammenhänge zum Programm der Bourgeoisie aller Länder erhoben hat. Die nationale Phrase freilich ist geblieben. Ihr realer Inhalt, ihre Funktion ist aber in ihr Gegenteil verkehrt: Sie fungiert nur noch als notdürftiger Deckmantel imperialistischer Bestrebungen und als Kampfschrei imperialistischer Rivalitäten, als einziges und letztes ideologisches Mittel, womit die Volksmassen für ihre Rolle des Kanonenfutters in den imperialistischen Kriegen eingefangen werden können.
Die allgemeine Tendenz der jetzigen kapitalistischen Politik beherrscht dabei so gut als übermächtiges blindwaltendes Gesetz die Politik der einzelnen Staaten, wie die Gesetze der wirtschaftlichen Konkurrenz die Produktionsbedingungen des einzelnen Unternehmers gebieterisch bestimmen: