Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 352

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revolutionäre Politik zu liefern. Die deutsche Sozialdemokratie beeilte sich beim Ausbruch des Krieges, den Raubzug des deutschen Imperialismus mit einem ideologischen Schild aus der Rumpelkammer des Marxismus zu schmücken, indem sie ihn für den von unseren Altmeistern 1848 herbeigesehnten Befreierfeldzug gegen den russischen Zarismus erklärte. Den Antipoden der Regierungssozialisten, den Bolschewiki, war es beschieden, mit der Phrase von der „Selbstbestimmung” Wasser auf die Mühle der Konterrevolution zu liefern und damit eine Ideologie nicht nur für die Erdrosselung der russischen Revolution selbst, sondern für die geplante konterrevolutionäre Liquidierung des ganzen Weltkrieges zu liefern. Wir haben allen Grund, uns die Politik der Bolschewiki in dieser Hinsicht sehr gründlich anzusehen. Das „Selbstbestimmungsrecht der Nationen”, verkoppelt mit dem Völkerbund und der Abrüstung von Wilsons Gnaden, bildet den Schlachtruf, unter dem sich die bevorstehende Auseinandersetzung des Internationalen Sozialismus mit der bürgerlichen Welt abspielen wird. Es liegt klar zutage, daß die Phrase von der Selbstbestimmung und die ganze nationale Bewegung, die gegenwärtig die größte Gefahr für den Internationalen Sozialismus bildet, gerade durch die russische Revolution und die Brester Verhandlungen eine außerordentliche Stärkung erfahren haben. Wir werden uns mit dieser Plattform noch eingehend zu befassen haben. Die tragischen Schicksale dieser Phraseologie in der russischen Revolution, in deren Stacheln sich die Bolschewiki verfangen und blutigritzen sollten, muß dem Internationalen Proletariat als warnendes Exempel dienen.

Nun folgte aus alledem die Diktatur Deutschlands. Vom Brester Frieden bis zum „Zusatzvertrag”![1] Die 200 Sühneopfer in Moskau.[2] Aus dieser Lage ergaben sich der Terror und die Erdrückung der Demokratie.

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[1] Der deutsch-russische Ergänzungsvertrag vom 27. August 1918 legte fest, daß Deutschland nach Bestimmung der Ostgrenzen Estlands und Livlands das von ihm besetzte Gebiet östlich davon zu räumen hatte. Das Gebiet östlich der Beresina wollte Deutschland in dem Maße räumen, wie Sowjetrußland seinen im Finanzabkommen festgelegten Zahlungen nachkam. Sowjetrußland verzichtete auf die Staatshoheit über Estland, Livland und Georgien.

Im deutsch-russischen Finanzabkommen vom 27. August 1918 wurde Sowjetrußland verpflichtet, 6 Milliarden Mark an Deutschland zu zahlen.

[2] Mit der Ermordung des deutschen Botschafters Wilhelm Graf von Mirbach-Harff hatten die linken Sozialrevolutionäre am 6. Juli 1918 in Moskau einen Putsch zur Beseitigung der Sowjetmacht begonnen. Der Aufstand wurde niedergeschlagen und Hunderte Sozialrevolutionäre verhaftet. „Überall müssen diese erbärmlichen und hysterischen Abenteurer, die zu einem Werkzeug in den Händen der Konterrevolutionäre geworden sind, schonungslos niedergeworfen werden... Mit Feinden werden wir auf Feindesart verfahren.” (W. I. Lenin: Werke, Bd. 27, S. 534 u. 535.)