Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 354

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ten, weitergegangenen Rußland hervorgegangene Versammlung einzuberufen.

Statt dessen schließt Trotzki aus der speziellen Unzulänglichkeit der im Oktober zusammengetretenen Konstituierenden Versammlung auf die Überflüssigkeit jeder Konstituierenden Versammlung, ja, er verallgemeinert sie zu der Untauglichkeit jeder aus den allgemeinen Volkswahlen hervorgegangenen Volksvertretung während der Revolution überhaupt.

„Dank dem offenen und unmittelbaren Kampf um die Regierungsgewalt häufen die arbeitenden Massen in kürzester Zeit eine Menge politischer Erfahrung an und steigen in ihrer Entwicklung schnell von einer Stufe auf die andere. Der schwerfällige Mechanismus der demokratischen Institutionen kommt dieser Entwicklung um so weniger nach, je größer das Land und je unvollkommener sein technischer Apparat ist.” (Trotzki S. 93.)

Hier haben wir schon den „Mechanismus der demokratischen Institution überhaupt”. Demgegenüber ist zunächst hervorzuheben, daß in dieser Einschätzung der Vertretungsinstitutionen eine etwas schematische, steife Auffassung zum Ausdruck kommt, der die historische Erfahrung gerade aller revolutionären Epochen nachdrücklich widerspricht. Nach Trotzkis Theorie widerspiegelt jede gewählte Versammlung ein für allemal nur die geistige Verfassung, politische Reife und Stimmung ihrer Wählerschaft just in dem Moment, wo sie zur Wahlurne schritt. Die demokratische Körperschaft ist demnach stets das Spiegelbild der Masse vom Wahltermin, gleichsam wie der Herschelsche Sternhimmel uns stets die Weltkörper nicht zeigt, wie sie sind, da wir auf sie blicken, sondern wie sie im Moment der Versendung ihrer Lichtboten aus unermeßlichen Weiten zur Erde waren. Jeder lebendige geistige Zusammenhang zwischen den einmal Gewählten und der Wählerschaft, jede dauernde Wechselwirkung zwischen beiden wird hier geleugnet.

Wie sehr widerspricht dem alle geschichtliche Erfahrung! Diese zeigt uns umgekehrt, daß das lebendige Fluidum der Volksstimmung beständig die Vertretungskörperschaften umspült, in sie eindringt, sie lenkt. Wie wäre es sonst möglich, daß wir in jedem bürgerlichen Parlament zuzeiten die ergötzlichsten Kapriolen der „Volksvertreter” erleben, die, plötzlich von einem „neuen Geist” belebt, ganz unerwartete Töne hervorbringen, daß die vertrocknetsten Mumien sich zuzeiten jugendlich gebärden und verschiedene Scheidemännchen auf einmal in ihrer Brust revolutionäre Töne finden – wenn es in den Fabriken, Werkstätten und auf den Straßen rumort?

Und diese ständige lebendige Einwirkung der Stimmung und der poli-

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