Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 355

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tischen Reife der Massen auf die gewählten Körperschaften sollte gerade in einer Revolution vor dem starren Schema der Parteischilder und der Wahllisten versagen? Gerade umgekehrt! Gerade die Revolution schafft durch ihre Gluthitze jene dünne, vibrierende, empfängliche politische Luft, in der die Wellen der Volksstimmung, der Pulsschlag des Volkslebens augenblicklich in wunderbarster Weise auf die Vertretungskörperschaften einwirken. Gerade darauf beruhen ja immer die bekannten effektvollen Szenen aus dem Anfangsstadium aller Revolutionen, wo alte reaktionäre oder höchst gemäßigte, unter altem Regime aus beschränktem Wahlrecht gewählte Parlamente plötzlich zu heroischen Wortführern des Umsturzes, zu Stürmern und Drängern werden. Das klassische Beispiel bietet ja das berühmte Lange Parlament in England, das, 1642 gewählt und zusammengetreten, sieben Jahre lang auf dem Posten blieb und in seinem Innern alle Wechselverschiebungen der Volksstimmung, der politischen Reife, der Klassenspaltung, des Fortgangs der Revolution bis zu ihrem Höhepunkt, von der anfänglichen devoten Plänkelei mit der Krone unter einem auf den Knien stehenden „Sprecher” bis zur Abschaffung des Hauses der Lords, Hinrichtung Karls und Proklamierung der Republik, [widerspiegelt] .

Und hat sich nicht dieselbe wunderbare Wandlung in den Generalständen[1] Frankreichs, im Zensusparlament Louis-Philippes, ja – das letzte frappanteste Beispiel liegt Trotzki so nahe – in der IV. russischen Duma wiederholt, die, im Jahre des Heils 1912[2], unter der starrsten Herrschaft der Konterrevolution gewählt, im Februar 1917 plötzlich den Johannistrieb des Umsturzes verspürte und zum Ausgangspunkt der Revolution ward?

Das alles zeigt, daß der „schwerfällige Mechanismus der demokratischen .”[3] ein kräftiges Korrektiv hat – eben in der lebendigen Bewegung der Masse, in ihrem unausgesetzten Druck. Und je demokratischer die Institution, je lebendiger und kräftiger der Pulsschlag des politischen Lebens der Masse, um so unmittelbarer und genauer die Wirkung – trotz starrer Parteischilder, veralteter Wahllisten etc. Gewiß, jede demokratische Institution hat ihre Schranken und Mängel, was sie wohl mit sämtlichen menschlichen Institutionen teilt. Nur ist das Heilmittel, das Trotzki und Lenin gefunden: die Beseitigung der Demokratie überhaupt, noch schlimmer als das Übel, dem es steuern soll: Es verschüttet nämlich den leben-

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[1] In der Quelle: Generalstaaten.

[2] In der Quelle: 1909. – Die zaristische Regierung hatte am 3. Juni 1907 die II. Reichsduma aufgelöst und die Mitglieder der sozialdemokratischen Fraktion verhaften lassen. Gleichzeitig führte sie, ohne die Zustimmung der Reichsduma einzuholen, ein neues Wahlgesetz ein. Dieser Staatsstreich ermöglichte es der Regierung, in der Duma eine rechtsgerichtete Mehrheit zu behaupten und die 1912 gewählte IV. Reichsduma zu einem Machtorgan „der reaktionären Schichten, der mit den fronherrlichen Gutsbesitzern und den Oberschichten der Bourgeoisie verquickten zaristischen Bürokratie” zu machen. (W. I. Lenin: Werke, Bd. 19, S. 29).

[3] Punkte in der Quelle.