Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 356

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digen Quell selbst, aus dem heraus alle angeborenen Unzulänglichkeiten der sozialen Institutionen allein korrigiert werden können: das aktive, ungehemmte, energische politische Leben der breitesten Volksmassen.

Nehmen wir ein anderes frappantes Beispiel: das von der Sowjetregierung ausgearbeitete Wahlrecht.[1] Es ist nicht ganz klar, welche praktische Bedeutung diesem Wahlrecht beigemessen ist. Aus der Kritik Trotzkis und Lenins an den demokratischen Institutionen geht hervor, daß sie Volksvertretungen aus allgemeinen Wahlen grundsätzlich ablehnen und sich nur auf die Sowjets stützen wollen. Weshalb dann überhaupt ein allgemeines Wahlrecht ausgearbeitet wurde, ist eigentlich nicht ersichtlich. Es ist uns auch nicht bekannt, daß dieses Wahlrecht irgendwie ins Leben eingeführt worden wäre; von Wahlen zu einer Art Volksvertretung auf seiner Grundlage hat man nichts gehört. Wahrscheinlicher ist die Annahme, daß es nur ein theoretisches Produkt sozusagen vom grünen Tisch aus geblieben ist; aber so, wie es ist, bildet es ein sehr merkwürdiges Produkt der bolschewistischen Diktaturtheorie. Jedes Wahlrecht wie überhaupt jedes politische Recht ist nicht nach irgendwelchen abstrakten Schemen der „Gerechtigkeit” und ähnlicher bürgerlich demokratischer Phraseologie zu messen, sondern an den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen, auf die es zugeschnitten ist. Das von der Sowjetregierung ausgearbeitete Wahlrecht ist eben auf die Übergangsperiode von der bürgerlich-kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaftsform berechnet, auf die Periode der proletarischen Diktatur. Im Sinne der Auslegung, die Lenin–Trotzki von dieser Diktatur vertreten, wird das Wahlrecht nur denjenigen verliehen, die von eigener Arbeit leben, und allen anderen verweigert.

Nun ist es klar, daß ein solches Wahlrecht nur in einer Gesellschaft

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[1] Das aktive und passive Wahlrecht, so wurde in der am 10. Juli 1918 angenommenen Verfassung festgelegt, besaßen unabhängig von Glaubensbekenntnis, Nationalität und Ansässigkeit folgende Bürger, die das 18. Lebensjahr vollendet hatten:

„Alle diejenigen, die ihren Lebensunterhalt aus produktiver und gesellschaftlich nützlicher Arbeit bestreiten, ebenso Personen, die im Haushalt tätig sind, wodurch den ersteren das produktive Arbeiten ermöglicht wird: Arbeiter und Angestellte aller Arten und Kategorien, die in der Industrie, im Handel, in der Landwirtschaft usw. beschäftigt sind, Bauern und ackerbautreibende Kosaken, insofern sie sich keiner Lohnarbeiter zur Erzielung von Gewinn bedienen.” Des weiteren hatten die Soldaten der Sowjetarmee und Bürger, die ihre Arbeitsfähigkeit eingebüßt hatten, das Wahlrecht. Das Wahlrecht entzogen wurde Personen, die Lohnarbeiter beschäftigten oder von arbeitslosen Einkommen lebten, sowie den Privatkaufleuten, Geistlichen und Angestellten der früheren Polizei. Die Frage der Beschränkung des Wahlrechts war „eine nationale Sonderfrage und keine allgemeine Frage der Diktatur”. Dabei mußte man „die besonderen Verhältnisse der russischen Revolution, den besonderen Weg ihrer Entwicklung” berücksichtigen. Die Beschränkung des Wahlrechts „ist zur Verwirklichung der Diktatur nicht obligatorisch, ist kein notwendiges Merkmal des logischen Begriffs der Diktatur”. (W. I. Lenin: Werke, Bd. 28, S. 254 f.)