Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 520

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zember[1], der jüngste Anschlag gegen das Polizeipräsidium[2], sie alle treiben die revolutionären Massen direkt vor die schroffe, nackte, unerbittliche Alternative: Entweder soll die Revolution ihren proletarischen Charakter, ihre sozialistische Mission preisgeben, oder Ebert–Scheidemann mit ihrem Anhang müssen von der Macht vertrieben werden.

Dies haben auch die breitesten Massen des Proletariats in Berlin und in den Hauptzentren der Revolution im Reiche begriffen. Diese klare, scharfe Erkenntnis, die sich im leidenschaftlichen gewaltigen Ruf aus Hunderttausenden von Kehlen jeden Augenblick losringt: Nieder mit Ebert–Scheidemann! das ist der Gewinn, die Reife, der Fortschritt, den uns die letzten Ereignisse eingebracht haben.

Was aber bei weitem nicht klar ist, worin noch die Schwäche und Unreife der Revolution an den Tag tritt, das ist die Frage, wie man den Kampf um die Wegräumung der Ebertschen Regierung führt, wie man die bereits erreichte Stufe der inneren Reife der Revolution in Taten und Machtverhältnisse umsetzt. Nichts hat diese Schwächen und Mängel so kraß aufgezeigt wie die letzten drei Tage.

Die Regierung Ebert–Scheidemann hinwegräumen heißt nicht, ins Reichskanzlerpalais stürmen und die paar Leute verjagen oder festnehmen, es heißt vor allem, sämtliche tatsächliche Machtpositionen ergreifen und sie auch festhalten und gebrauchen.

Was haben wir aber in diesen drei Tagen erlebt? Alles, was wirklich an Positionen erobert worden ist: die Wiederbesetzung des Polizeipräsidiums, die Besetzung des „Vorwärts”, die Besetzung des WTB und der bürgerlichen Redaktionen, das alles war spontanes Werk der Massen. Was haben die Körperschaften daraus gemacht, die in diesen Tagen an der Spitze der Massen standen oder zu stehen vorgaben: die revolutionären Obleute und der Zentralvorstand der USP von Groß-Berlin? Die allerelementarsten Regeln der revolutionären Aktion haben sie vernachlässigt, als da sind:

1. Wenn die Massen den „Vorwärts” besetzen, dann ist es Pflicht der revolutionären Obleute und des Zentralvorstands der USP von Groß-Berlin, die ja offiziell die Berliner Arbeiterschaft zu vertreten vorgeben, für sofortige Redaktionsführung im Sinne der revolutionären Arbeiterschaft Berlins zu sorgen. Wo sind denn die Redakteure geblieben? Was machen Däumig, Ledebour – Journalisten und Redakteure von Ruf und

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[1] Am 24. Dezember 1918 hatten konterrevolutionäre Truppen unter Führung von Generalleutnant Arnold Lequis die Volksmarinedivision in Schloß und Marstall in Berlin mit Artillerieunterstützung angegriffen. Dabei fanden 11 Matrosen und 56 Soldaten der Lequis-Truppen den Tod. Die kämpfenden Matrosen erhielten Waffenhilfe durch die Berliner Arbeiter. Dadurch brach der Angriff zusammen.

[2] Am 4. Januar 1919 war der Berliner Polizeipräsident Emil Eichhorn, der dem linken Flügel der USPD angehörte, von der sozialdemokratischen Regierung als abgesetzt erklärt worden. Damit sollten die revolutionären Arbeiter und Soldaten Berlins zu unvorbereiteten bewaffneten Kämpfen provoziert werden. Die revolutionären Obleute, die Berliner Leitung der USPD und die Zentrale der KPD riefen gemeinsam die Werktätigen und Soldaten zu Aktionen für die Rücknahme der Absetzung Emil Eichhorns, für die Entwaffnung der Konterrevolution und die Bewaffnung der Arbeiter auf. Hunderttausende demonstrierten am 5. Januar in Berlin, formierten sich in der Siegesallee und marschierten zum Polizeipräsidium.