Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 276

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eine neue Entfachung des Weltkrieges. Jeder Sonderfriede ist überhaupt schon aus dem Grunde nicht proletarische, sondern rein bürgerliche Politik, weil er auf eine einseitig nationale Lösung des Kriegsproblems hinausläuft, weil er die Schicksale des europäischen Proletariats im ganzen außer acht läßt, um nur ein einzelnes Land aus den Krallen des Krieges zu befreien. Im gegebenen Falle wäre ein Sonderfriede noch mehr: Er wäre ein unschätzbarer Hilfsdienst an den deutschen Imperialismus, somit an den ärgsten Feind des deutschen Proletariats, an das stärkste Bollwerk der Reaktion in Europa und – an den gefährlichsten Feind der russischen Revolution am anderen Tage nach Beendigung des Krieges.

Aber ein allgemeiner Friede kann von Rußland allein nicht herbeigeführt werden. Das russische Proletariat kann den Widerstand der eigenen herrschenden Klassen niederzwingen, es ist nicht imstande, auf die imperialistischen Regierungen Englands, Frankreichs und Italiens ausschlaggebenden Einfluß auszuüben, da hier der entscheidende Druck naturgemäß, wie in Rußland selbst, nur von innen heraus, nur von dem englischen, französischen und italienischen Proletariat kommen könnte. So ist in Wirklichkeit, trotz der machtvollen und siegreichen Friedensaktion der russischen Volksmasse, zunächst weder ein Sonderfriede noch ein allgemeiner Friede praktisch zu erreichen. Solange diese Situation dauert, geht der Krieg weiter, und das russische Proletariat sieht sich vor die unabweisbare Frage gestellt: Wie sich nun in diesem Kriege verhalten?

Die offiziell in Rußland anerkannte Friedensformel des Arbeiter- und Soldatenrats nimmt dem Kriege scheinbar – wenigstens für Rußland – den Charakter eines imperialistischen Annexionskrieges und reduziert ihn auf reine Landesverteidigung. In diesem Falle ist sie es auch in dem einzig wahren Sinne des Wortes, denn sie ist die Verteidigung der Errungenschaften der Revolution unter der souveränen Leitung der revolutionären Massen. Allein politische Verteidigung läßt sich militärisch von der Offensive nicht trennen. Wer überhaupt Krieg führt, muß ihn, um welche Ziele immer der Krieg gehen mag, militärisch möglichst auf die Offensive stellen, eingedenk des alten bewährten Grundsatzes jedes Kampfes, daß ein kräftiger Hieb seit jeher die beste Parade ist. Offenbar durch diese Logik der Dinge gezwungen, beschloß der russische Kriegsminister Kerenski sowie die Mehrheit der Arbeiter- und Soldatenmasse, zur Offensive zu greifen.

Jedoch alle aktive Kriegführung und jede militärische Offensive von russischer Seite dient jetzt kraft der objektiven Sachlage und ihrer Logik nicht der Verteidigung der russischen Revolution, sondern den Interessen

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