Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 277

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des Ententeimperialismus. Keine noch so radikale und demokratische Friedensformel vermag die faustdicke Tatsache zu beseitigen, daß jede von Rußland unternommene militärische Aktion den imperialistischen Kriegszielen Englands, Frankreichs und Italiens zugute kommt, daß also die russische Republik, indem sie die reine Landesverteidigung proklamiert, in Wirklichkeit an einem imperialistischen Kriege teilnimmt und, während sie das Selbstbestimmungsrecht der Nationen als Grundsatz ausruft, in der Praxis der Herrschaft des Imperialismus über fremde Nationen Vorschub leistet.

Wie aber nun, wenn Rußland sich auf keine Offensive einläßt und sich militärisch – wie in den ersten Monaten nach dem Revolutionsausbrach – auf eine passive abwartende Haltung beschränkt, indem es bloß Gewehr bei Fuß steht, um eventuelle Angriffe von deutscher Seite schlecht oder recht zu parieren? Mit dieser Passivität, die an sich eine Halbheit, ein Ausweichen dem Kriege, nicht dessen Beendigung bedeutete, leistete Rußland unschätzbare Dienste dem deutschen Imperialismus, indem es ihm gestattete, seine Hauptstreitkräfte nur gegen die westliche Front zu verwenden, indem es ihm im Osten gewissermaßen den Rücken deckte. So befindet sich die russische Republik zwischen der Szylla und der Charybdis. Will sie sich etwa durch einen Sonderfrieden aus der Schlinge des Völkermordens ziehen, dann verrät sie das Internationale Proletariat und die eigenen Schicksale an den deutschen Imperialismus. Ist sie aber nicht imstande, einen allgemeinen Frieden allein durchzusetzen, dann bleibt ihr nur die Wahl zwischen aktiver Kriegführung, mit der sie die Interessen des Ententeimperialismus besorgt, und passiver Kriegführung, d. h. militärischer Untätigkeit, mit der sie ebenso todsicher die Geschäfte des deutschen Imperialismus fördert.

Dies ist die wirkliche Sachlage der russischen Republik – eine tragische Situation, an der die schöne Friedensformel, die wie ein erlösendes Zauberwort von allen begrüßt wurde, nicht das geringste ändert. Und diese Sachlage bedingt, daß das russische Proletariat, trotz all seiner heroischen Kämpfe und Siege, trotz seiner Machtentfaltung gegen den Krieg und den Imperialismus in Wirklichkeit heute verdammt ist, ein Spielball des Imperialismus zu sein, und daß jede Taktik, die es einschlagen mag, letzten Endes dem Imperialismus zugute kommt. Es gibt einfach – so paradox dies klingen mag – keine richtige Taktik, die von dem russischen Proletariat heute befolgt werden könnte: Welche es wählen mag, sie wird falsch sein. Und das hat einen sehr triftigen, tiefliegenden Grund. Der heutige Weltkrieg, der seinen objektiven Ursachen und seinem historischen Cha-

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