zu, daß es in Marokko keine eigenen Interessen besaß und zu schützen hatte. Gerade dadurch bekam aber der deutsche Vorstoß in der Marokkosache eine weittragende politische Bedeutung. Gerade in der Unbestimmtheit ihrer greifbaren Ziele und Ansprüche verriet die ganze deutsche Marokkopolitik die unbegrenzten Appetite, das Tasten und Suchen nach Beute, sie war eine ganz allgemein gehaltene imperialistische Kriegserklärung gegen Frankreich. Der Gegensatz der beiden Staaten erschien hier in grellem Lichte. Dort eine langsame Industrieentwicklung, eine stagnierende Bevölkerung, ein Rentnerstaat, der hauptsächlich auswärtige Finanzgeschäfte macht, bepackt mit einem großen Kolonialreich, das mit Mühe und Not zusammengehalten wird, hier – ein mächtiger junger, auf den ersten Platz hinstrebender Kapitalismus, der in die Welt auszieht, um nach Kolonien zu pirschen. An die Eroberung englischer Kolonien war nicht zu denken. So konnte sich der Heißhunger des deutschen Imperialismus außer auf die asiatische Türkei in erster Linie nur auf die französische Erbschaft richten. Dieselbe Erbschaft bot auch einen bequemen Köder, um Italien eventuell auf Frankreichs Kosten für die österreichischen Expansionsgelüste auf dem Balkan zu entschädigen und es so durch gemeinsame Geschäfte am Dreibund festzuhalten. Daß die deutschen Ansprüche auf Marokko den französischen Imperialismus aufs äußerste beunruhigen mußten, ist klar, wenn man bedenkt, daß Deutschland, in irgendeinem Teile Marokkos festgesetzt, es stets in der Hand hätte, das ganze nordafrikanische Reich Frankreichs, dessen Bevölkerung in chronischem Kriegszustand gegen die französischen Eroberer lebt, durch Waffenlieferungen an allen Ecken in Brand zu setzen. Der schließliche Verzicht und die Abfindung Deutschlands hatten nur diese unmittelbare Gefahr beseitigt, aber die allgemeine Beunruhigung Frankreichs und den einmal geschaffenen weltpolitischen Gegensatz weiter bestehen lassen.[1]
[1] Die in den Kreisen der deutschen Imperialisten jahrelang betriebene lärmende Hetze wegen Marokko war auch nicht geeignet, die Besorgnis Frankreichs zu beruhigen. Der Alldeutsche Verband vertrat laut das Programm der Annexion Marokkos, natürlich als ..eine Lebensfrage für Deutschland, und verbreitete eine Flugschrift aus der Feder seines Vorsitzenden, Heinrich Claß, unter dem Titel „Westmarokko deutsch I” Als nach dem getroffenen Kongohandel Prof. Schiemann in der „Kreuz-Zeitung” die Abmachung des Auswärtigen Amtes und den Verzicht auf Marokko zu verteidigen suchte, fiel die „Post” über ihn folgendermaßen her:
„Herr Professor Schiemann ist von Geburt Russe, vielleicht nicht einmal rein deutscher Abkunft. Niemand kann es ihm daher verdenken, daß er Fragen, die des Nationalbewußtsein, den patriotischen Stolz in der Brust eines jeden Reicbsdeutschen auf das empfindlichste berühren, kalt und höhnisch gegenübersteht. Das Urteil eines Fremden, der von dem patriotischen Herzschlag, dem schmerzlichen Zucken der bangen Seele des deutschen Volkes spricht als von einer durchgegangenen politischen Phantasie, einem Konquistadorenabenteuer, muß um so mehr unsern berechtigten Zorn und Verachtung herausfordern, als dieser Fremde als Hochschullehrer der Berliner Universität die Gastfreundschaft des preußischen Staates genießt. Mit tiefem Schmerze aber muß es uns erfüllen, daß dieser Mann, der in dem leitenden Organ der Deutschkonservativen Partei die heiligsten Gefühle des deutschen Volkes derart zu bescbimpfen wagt, der Lehrer und Ratgeber unseres Kaisers in politischen Dingen ist und – ob mit Recht oder Unrecht – als das Sprachrohr des Kaisers gilt.” – [Fußnote im Original]