Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 85

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Konsortium erstanden, so verkaufen diese den Zehnten jedes einzelnen Sandschaks (Kreises) an andere Spekulanten, die ihren Anteil wiederum einer ganzen Reihe kleinerer Agenten abtreten. Da jeder seine Auslagen decken und soviel Gewinn als möglich einstreichen will, so wächst der Zehent in dem Maße, wie er sich den Bauern nähert, lawinenartig. Hat sich der Pächter in seinen Berechnungen geirrt, so sucht er sich auf Kosten des Bauern zu entschädigen. Dieser wartet, fast immer verschuldet, mit Ungeduld auf den Augenblick, seine Ernte verkaufen zu können; wenn er aber sein Getreide geschnitten hat, muß er mit dem Dreschen oft wochenlang warten, bis es dem Zehentpächter beliebt, sich den ihm gebührenden Teil zu nehmen. Der Pächter, der gewöhnlich zugleich Getreidehändler ist, benutzt diese Lage des Bauern, dem die ganze Ernte auf dem Felde zu verfaulen droht, um ihm die Ernte zu niedrigem Preise abzupressen, und weiß sich gegen Beschwerden Unzufriedener die Hilfe der Beamten und besonders der Muktars (Ortsvorsteher) zu sichern. Kann kein Steuerpächter gefunden werden, so werden die Zehnten von der Regierung in natura eingetrieben, in Magazine gebracht und als der schuldige „Zuschuß” an die Kapitalisten überwiesen. Dies der innere Mechanismus der„wirtschaftlichen Regeneration der Türkei” durch Kulturwerke des europäischen Kapitals.

Durch diese Operationen werden also zweierlei Resultate erzielt. Die kleinasiatische Bauernwirtschaft wird zum Objekt eines wohlorganisierten Aussaugungsprozesses zu Nutz und Frommen des europäischen, in diesem Falle vor allem des deutschen Bank- und Industriekapitals. Damit wachsen die „Interessensphären” Deutschlands in der Türkei, die wiederum Grundlage und Anlaß zur politischen „Beschützung” der Türkei abgeben. Zugleich wird der für die wirtschaftliche Ausnutzung des Bauerntums nötige Saugapparat, die türkische Regierung, zum gehorsamen Werkzeug, zum Vasallen der deutschen auswärtigen Politik. Schon von früher her standen türkische Finanzen, Zollpolitik, Steuerpolitik, Staatsausgaben unter europäischer Kontrolle. Der deutsche Einfluß hat sich namentlich der Militärorganisation bemächtigt.

Es ist nach alledem klar, daß im Interesse des deutschen Imperialismus die Stärkung der türkischen Staatsmacht liegt, soweit, daß ihr vorzeitiger Zerfall verhütet wird. Eine beschleunigte Liquidation der Türkei würde zu ihrer Verteilung unter England, Rußland, Italien, Griechenland u. a. führen, womit für die großen Operationen des deutschen Kapitals die einzigartige Basis verschwinden müßte. Zugleich würde ein außerordentlicher Machtzuwachs Rußlands und Englands sowie der Mittelmeerstaaten erfolgen. Es gilt also für den deutschen Imperialismus, den bequemen Appa-

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