Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 84

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Herren Siemens, Gwinner, Helfferich usw„ wie er es schon früher beim englischen, französischen und österreichischen Kapital war. Dieser Schuldner mußte nunmehr nicht bloß ständig enorme Summen aus dem Staate herauspumpen, um die Anleihen zu verzinsen, sondern mußte für die Bruttogewinne der auf diese Weise errichteten Eisenbahnen Garantie leisten. Die modernsten Verkehrsmittel und Anlagen werden hier auf ganz rückständige, noch zum großen Teil naturalwirtschaftliche Zustände, auf die primitivste Bauernwirtschaft aufgepfropft. Aus dem dürren Boden dieser Wirtschaft, die, von der orientalischen Despotie seit Jahrhunderten skrupellos ausgesogen, kaum einige Halme zur eigenen Ernährung des Bauerntums über die Staatsabgaben hinaus produziert, können der nötige Verkehr und die Profite für die Eisenbahnen natürlich nicht herauskommen. Der Warenhandel und der Personenverkehr sind, der wirtschaftlichen und kulturellen Beschaffenheit des Landes entsprechend, sehr unentwickelt und können nur langsam steigen. Das zur Bildung des erforderlichen kapitalistischen Profits Fehlende wird nun in Form der sogenannten „Kilometergarantie”[1] vom türkischen Staate den Eisenbahngesellschaften jährlich zugeschossen. Dies ist das System, nach dem die Bahnen in der europäischen Türkei vom österreichischen und französischen Kapital errichtet wurden, und dasselbe System wurde nun auf die Unternehmungen der Deutschen Bank in der asiatischen Türkei angewendet. Als Pfand und Sicherheit, daß der Zuschuß geleistet wird, hat die türkische Regierung an die Vertretung des europäischen Kapitals, den sogenannten Verwaltungsrat der öffentlichen Schuld, die Hauptquelle der Staatseinnahmen in der Türkei, die Zehnten, aus einer Reihe von Provinzen überwiesen. Von 1893 bis 1910 hat die türkische Regierung auf solche Weise z. B. für die Bahn bis Angora und für die Strecke Eski-Schehir–Konia zirka 90 Millionen Franken „zugeschossen”. Die von dem türkischen Staat an seine europäischen Gläubiger immer wieder verpfändeten „Zehnten” sind uralte bäuerliche Naturalabgaben in Korn, Hammeln, Seide usw. Die Zehnten werden nicht direkt, sondern durch Pächter in der Art der berühmten Steuereinnehmer des vorrevolutionären Frankreichs erhoben, denen der Staat den voraussichtlichen Ertrag der Abgaben jedes Wilajets (Provinz) einzeln im Wege der Auktion, d. h. an den Meistbietenden, gegen Bezahlung in bar verkauft. Ist der Zehent eines Wilajets von einem Spekulanten oder einem

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[1] Beim Beginn des Baues der anatolischen Eisenbahnlinie wurden die Gesamtkosten für einen Kilometer berechnet. Die türkische Regierung war verpflichtet, die Differenz zwischen den Betriebseinnahmen und den berechneten Gesamtkosten an die Bahngesellschaft zu zahlen. Um die Deckung dieses Betrages zu gewährleisten, mußten die Einnahmen des türkischen Staatsschatzes zur Verfügung gestellt werden.