Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 72

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samte Sozialdemokratie und die gesamte deutsche Öffentlichkeit war überzeugt, daß die deutsche Regierung seit dem österreichischen Ultimatum im Schweiße ihres Angesichts für die Erhaltung des europäischen Friedens arbeitete. Die gesamte sozialdemokratische Presse nahm an, daß dieses Ultimatum für die deutsche Regierung genauso ein Blitz aus heiterem Himmel war wie für die deutsche Öffentlichkeit. Das Weißbuch erklärte nun klipp und klar: 1. daß die österreichische Regierung vor ihrem Schritt gegen Serbien Deutschlands Einwilligung eingeholt hatte; 2. daß die deutsche Regierung sich vollkommen bewußt war, daß das Vorgehen Österreichs zum Kriege mit Serbien und im weiteren Verfolg zum europäischen Kriege führen würde; 3. daß die deutsche Regierung Österreich nicht zur Nachgiebigkeit riet, sondern umgekehrt erklärte, daß ein nachgiebiges, geschwächtes Österreich kein würdevoller Bundesgenosse mehr für Deutschland sein könnte; 4. daß die deutsche Regierung Österreich vor dessen Vorgehen gegen Serbien auf alle Fälle den Beistand im Kriege fest zugesichert hatte, und endlich 5„ daß die deutsche Regierung sich bei alledem die Kontrolle über das entscheidende Ultimatum Österreichs an Serbien, an dem der Weltkrieg hing, nicht vorbehalten, sondern Österreich „völlig freie Hand gelassen hatte”.

Dies alles erfuhr unsere Reichstagsfraktion am 4. August. Und noch eine neue Tatsache erfuhr sie aus dem Munde der Regierung am gleichen Tage: daß die deutschen Heere bereits in Belgien einmarschiert waren. Aus alledem schloß die sozialdemokratische Fraktion, daß es sich um einen Verteidigungskrieg Deutschlands gegen eine fremde Invasion, um die Existenz des Vaterlandes, um Kultur und einen Freiheitskrieg gegen den russischen Despotismus handle.

Konnte der deutliche Hintergrund des Krieges und die ihn notdürftig verdeckende Kulisse, konnte das ganze diplomatische Spiel, das den Kriegsausbruch umrankte, das Geschrei von der Welt von Feinden, die alle Deutschland nach dem Leben trachten, es schwächen, erniedrigen, unterjochen wollen, konnte das alles für die deutsche Sozialdemokratie eine Überraschung sein, an ihr Urteilsvermögen, an ihren kritischen Scharfsinn zu hohe Anforderungen stellen? Gerade für unsere Partei am allerwenigsten! Zwei große deutsche Kriege hatte sie bereits erlebt und aus beiden denkwürdige Lehren schöpfen können.

Jeder Abc-Schütze der Geschichte weiß heute, daß der erste Krieg von 1866 gegen Österreich von Bismarck planmäßig von langer Hand vorbereitet war, daß seine Politik von der ersten Stunde an zum Bruch, zum Krieg mit Österreich führte. Der Kronprinz und nachmalige Kaiser Fried-

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