Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 71

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bat unsere Ansicht. Aus vollem Herzen konnten wir unserm Bundesgenossen unser Einverständnis mit seiner Einschätzung der Sachlage geben und ihm versichern, daß eine Aktion, die er für notwendig hielte, um der gegen den Bestand der Monarchie gerichteten Bewegung in Serbien ein Ende zu machen, unsere Billigung finden würde. Wir waren uns hierbei wohl bewußt, daß ein etwaiges kriegerisches Vorgehen Österreich-Ungarns gegen Serbien Rußland auf den Plan bringen und uns hiermit unserer Bundespflicht entsprechend in einen Krieg verwickeln könnte. Wir konnten aber in der Erkenntnis der vitalen Interessen Österreich-Ungarns, die auf dem Spiele standen, unserm Bundesgenossen weder zu einer mit seiner Würde nicht zu vereinbarenden Nachgiebigkeit raten noch auch ihm unsern Beistand in diesem schweren Moment versagen. Wir konnten dies um so weniger, als auch unsere Interessen durch die andauernde serbische Wühlarbeit auf das empfindlichste bedroht waren. Wenn es den Serben mit Rußlands und Frankreichs Hilfe noch länger gestattet geblieben wäre, den Bestand der Nachbarmonarchie zu gefährden, so würde dies den allmählichen Zusammenbruch Österreichs und eine Unterwerfung des gesamten Slawentums unter russisches Zepter zur Folge haben, wodurch die Stellung der germanischen Rasse in Mitteleuropa unhaltbar würde. Ein moralisch geschwächtes, durch das Vordringen des russischen Panslawismus zusammenbrechendes Österreich wäre für uns kein Bundesgenosse mehr, mit dem wir rechnen könnten und auf den wir uns verlassen könnten, wie wir es angesichts der immer drohender werdenden Haltung unserer östlichen und westlichen Nachbarn müssen. Wir ließen daher Österreich völlig freie Hand in seiner Aktion gegen Serbien. Wir haben an den Vorbereitungen dazu nicht teilgenommen.”[1] [Hervorhebungen – R. L.]

Diese Worte lagen der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion am 4. August vor, Worte, die die einzig wichtige ausschlaggebende Stelle des ganzen Weißbuchs ausmachen, bündige Erklärungen der deutschen Regierung, neben denen alle übrigen Gelb-, Grau-, Blau- und Orangebücher für die Aufklärung der diplomatischen Vorgeschichte des Krieges und ihrer nächsten treibenden Kräfte völlig belanglos und gleichgültig sind. Hier hatte die Reichstagsfraktion den Schlüssel zur Beurteilung der Situation in der Hand. Die gesamte sozialdemokratische Presse schrie eine Woche vorher, daß das österreichische Ultimatum eine verbrecherische Provokation des Weltkrieges wäre, und hoffte auf die hemmende, mäßigende Einwirkung der deutschen Regierung auf die Wiener Kriegshetzer. Die ge-

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[1] Das Deutsche Weißbuch über den Ausbruch des Weltkrieges, Pößneck in Thür. 1914, S. 3 f.