Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 70

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-4/seite/70

Machthaber in Wien mit aller Gewalt zum Kriege drängen, denn was in der gestern abend in Belgrad überreichten Note verlangt wird, ist schon eine Art von Protektorat Österreichs über Serbien. Es wäre dringend vonnöten, daß die Berliner Diplomatie den Wiener Hetzern zu verstehen gäbe, daß Deutschland für die Unterstützung derartiger anmaßender Forderungen keinen Finger rühren kann und daß daher ein Zurückstecken der österreichischen Ansprüche geboten sei.”

Und die „Bergische Arbeiterstimme” in Solingen:

„Österreich will den Konflikt mit Serbien und benutzt das Attentat von Sarajevo nur als Vorwand, um Serbien moralisch ins Unrecht zu setzen. Aber die Sache ist doch zu plump angefangen worden, als daß die Täuschung der öffentlichen Meinung Europas gelingen könnte …

Wenn aber die Kriegshetzer des Wiener Ballhausplatzes etwa glauben, daß ihnen bei einem Konflikt, in den auch Rußland hineingezogen würde, die Dreibund genossen Italien und Deutschland zu Hilfe kommen müßten, so geben sie sich leeren Illusionen hin. Italien wäre eine Schwächung Österreich-Ungarns, des Konkurrenten in der Adria und auf dem Balkan, sehr gelegen, und es wird sich deshalb nicht die Finger verbrennen, Österreich zu unterstützen. In Deutschland aber dürfen es die Machthaber – selbst wenn sie so töricht wären, es zu wollen – nicht wagen, das Leben eines einzigen Soldaten für die verbrecherische Machtpolitik der Habsburger aufs Spiel zu setzen, ohne den Volkszorn gegen sich heraufzubeschwören.”

So beurteilte unsere gesamte Parteipresse ohne Ausnahme den Krieg noch eine Woche vor seinem Ausbruch. Danach handelte es sich nicht um die Existenz und um die Freiheit Deutschlands, sondern um ein frevelhaftes Abenteuer der österreichischen Kriegspartei, nicht um Notwehr, nationale Verteidigung und aufgedrungenen heiligen Krieg im Namen der eigenen Freiheit, sondern um frivole Provokation, um unverschämte Bedrohung fremder, serbischer Selbständigkeit und Freiheit.

Was geschah am 4. August, um diese so scharf ausgeprägte, so allgemein verbreitete Auffassung der Sozialdemokratie plötzlich auf den Kopf zu stellen? Nur eine neue Tatsache trat hinzu: das am gleichen Tage von der deutschen Regierung dem Reichstag vorgelegte Weißbuch. Und dieses enthielt auf S. 4:

„Unter diesen Umständen mußte Österreich sich sagen, daß es weder mit der Würde noch mit der Selbsterhaltung der Monarchie vereinbar wäre, dem Treiben jenseits der Grenze noch länger tatenlos zuzusehen. Die k. und k. Regierung benachrichtigte uns von dieser Auffassung und er

Nächste Seite »