Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 67

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sche[1], so antwortet das Echo in der sozialdemokratischen Erklärung: Für unser Volk steht alles auf dem Spiele, wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich. Nur in einem Punkt weicht die sozialdemokratische Erklärung vom Regierungsschema ab: Sie stellt in den Vordergrund der Orientierung den russischen Despotismus als die Gefahr für Deutschlands Freiheit. In der Thronrede hieß es in bezug auf Rußland bedauernd: „Mit schwerem Herzen habe Ich Meine Armee gegen einen Nachbarn mobilisieren müssen, mit dem sie auf so vielen Schlachtfeldern gemeinsam gefochten hat. Mit aufrichtigem Leid sah Ich eine von Deutschland treu bewahrte Freundschaft zerbrechen.”[2] Die sozialdemokratische Fraktion hat den schmerzlichen Bruch einer treu bewahrten Freundschaft mit dem russischen Zarismus in eine Fanfare der Freiheit gegen die Despotie umstilisiert und so in dem einzigen Punkt, wo sie Selbständigkeit gegenüber der Regierungserklärung zeigt, revolutionäre Überlieferungen des Sozialismus gebraucht, um den Krieg demokratisch zu adeln, ihm eine volkstümliche Glorie zu schaffen.

Dies alles leuchtete der Sozialdemokratie, wie gesagt, ganz plötzlich am 4. August ein. Alles, was sie bis zu jenem Tage, was sie am Vorabend des Ausbruchs des Krieges sagte, war das gerade Gegenteil der Fraktionserklärung. So schrieb der „Vorwärts” am 25. Juli, als das österreichische Ultimatum an Serbien, an dem sich der Krieg entzündete[3], veröffentlicht wurde:

„Sie wollen den Krieg, die gewissenlosen Elemente, die in der Wiener Hofburg Einfluß haben und Ausschlag geben. Sie wollen den Krieg – aus dem wilden Geschrei der schwarzgelben Hetzpresse klang es seit Wochen heraus. Sie wollen den Krieg – das österreichische Ultimatum an Serbièn macht es deutlich und aller Welt offenbar …

Weil das Blut Franz Ferdinands und seiner Gattin unter den Schüssen eines irren Fanatikers geflossen ist, soll das Blut Tausender von Arbeitern und Bauern fließen, ein wahnwitziges Verbrechen soll von einem weit wahnwitzigeren Verbrechen über gipfelt werdenl … Das österreichische Ultimatum an Serbien kann der Fidibus sein, mit dem Europa an allen vier Ecken in Brand gesteckt wird!

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[1] In der Eröffnungssitzung des Reichstages am 4. August 1914 hatte Wilhelm II. erklärt: „Ich kenne keine Parteien mehr, Ich kenne nur Deutsche.”

[2] Verhandlungen des Reichstags. XIII. Legislaturperiode, II. Session, Bd. 306. Stenographische Berichte, S. 2.

[3] Am 23. Juli 1914 hatte Österreich-Ungarn im Zusammenhang mit der Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand durch serbische Nationalisten in einer ultimativen Note von der serbischen Regierung Zugeständnisse gefordert, die eine völkerrechtswidrige Einmischung in die inneren Angelegenheiten Serbiens bedeuteten. Die Ablehnung dieses Ultimatums nahm Österreich-Ungarn zum Anlaß für die Auslösung des Krieges.