Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 66

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die ungeheure Mehrheit des Volkes damals unter dem Einfluß der Bismarckschen Mache für ein nationales Lebensinteresse Deutschlands hielt, vertraten die Führer der Sozialdemokratie den Standpunkt: Die Lebensinteressen der Nation und die Klasseninteressen des Internationalen Proletariats sind eins, beide sind gegen den Krieg. Erst der heutige Weltkrieg, erst die Erklärung der sozialdemokratischen Fraktion vom 4. August 1914 deckten zum ersten Male das furchtbare Dilemma auf: hie nationale Freiheit – hie der Internationale Sozialismus!

Nun, die fundamentale Tatsache in der Erklärung unserer Reichstagsfraktion, die grundsätzliche Neuorientierung der proletarischen Politik war jedenfalls eine ganz plötzliche Erleuchtung. Sie war einfaches Echo der Version der Thronrede und der Kanzlerrede am 4. August. „Uns treibt nicht Eroberungslust”, hieß es in der Thronrede, „uns beseelt der unbeugsame Wille, den Platz zu bewahren, auf den Gott uns gestellt hat, für uns und alle kommenden Geschlechter.

Aus den Schriftstücken, die Ihnen zugegangen sind, werden Sie ersehen, wie Meine Regierung und vor allem Mein Kanzler bis zum letzten Augenblick bemüht waren, das Äußerste abzuwenden. In aufgedrungener Notwehr, mit reinem Gewissen und reiner Hand ergreifen wir das Schwert.”[1] Und Bethmann Hollweg erklärte: „Meine Herren, wir sind jetzt in der Notwehr; und Not kennt kein Gebot! . .. Wer so bedroht ist wie wir und um sein Höchstes kämpft, der darf nur daran denken, wie er sich durchhaut … Wir kämpfen um die Früchte unserer friedlichen Arbeit, um das Erbe einer großen Vergangenheit und um unsere Zukunft.”[2] Das ist genau der Inhalt der sozialdemokratischen Erklärung: 1. wir haben alles getan, um den Frieden zu erhalten, der Krieg ist uns aufgezwungen worden von anderen, 2. nun der Krieg da ist, müssen wir uns verteidigen, 3. in diesem Kriege steht für das deutsche Volk alles auf dem Spiele. Die Erklärung unserer Reichstagsfraktion ist nur eine etwas andere Stilisierung der Regierungserklärungen. Wie diese auf die diplomatischen Friedensbemühungen Bethmann Hollwegs und auf kaiserliche Telegramme, beruft sich die Fraktion auf Friedensdemonstrationen der Sozialdemokratie vor dem Ausbruch des Krieges. Wie die Thronrede jede Eroberungslust weit von sich weist, so lehnt die Fraktion den Eroberungskrieg unter Hinweis auf den Sozialismus ab. Und wenn Kaiser und Kanzler rufen: Wir kämpfen um unser Höchstes! Ich kenne keine Parteien, ich kenne nur noch Deut-

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[1] Verhandlungen des Reichstags. XIII. Legislaturperiode, II. Session, Bd. 306. Stenographische Berichte, Berlin 1916, S. 2.

[2] Ebenda, S. 6 f.