Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 65

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einem ungeheuren Irrtum befangen? Wir stehen vor der Lebensfrage des Internationalen Sozialismus.

Der Weltkrieg ist nicht die erste Probe aufs Exempel unserer Internationalen Grundsätze. Die erste Probe hat unsere Partei vor 45 Jahren bestanden. Damals, am 21. Juli 1870, gaben Wilhelm Liebknecht und August Bebel die folgende historische Erklärung im Norddeutschen Reichstag ab:

„Der gegenwärtige Krieg ist ein dynastischer Krieg, unternommen im Interesse der Dynastie Bonaparte, wie der Krieg von 1866[1] im Interesse der Dynastie Hohenzollern.

Die zur Führung des Krieges dem Reichstag abverlangten Geldmittel können wir nicht bewilligen, weil dies ein Vertrauensvotum für die preußische Regierung wäre, die durch ihr Vorgehen im Jahre 1866 den gegenwärtigen Krieg vorbereitet hat.

Ebensowenig können wir die geforderten Geldmittel verweigern, denn es könnte dies als Billigung der frevelhaften und verbrecherischen Politik Bonapartes aufgefaßt werden.

Als prinzipielle Gegner jedes dynastischen Krieges, als Sozialrepublikaner und Mitglieder der Internationalen Arbeiterassoziation, die ohne Unterschied der Nationalität alle Unterdrücker bekämpft, alle Unterdrückten zu einem großen Bruderbunde zu vereinigen sucht, können wir uns weder direkt noch indirekt für den gegenwärtigen Krieg erklären und enthalten uns daher der Abstimmung, indem wir die zuversichtliche Hoffnung aussprechen, daß die Völker Europas, durch die jetzigen unheilvollen Ereignisse belehrt, alles aufbieten werden, um sich ihr Selbstbestimmungsrecht zu erobern und die heutige Säbel- und Klassenherrschaft als Ursache aller staatlichen und gesellschaftlichen Übel zu beseitigen.”[2]

Mit dieser Erklärung stellten die Vertreter des deutschen Proletariats dessen Sache klar und unzweideutig unter das Zeichen der Internationale und sprachen dem Kriege gegen Frankreich den Charakter eines nationalen, freiheitlichen Krieges rundweg ab. Es ist bekannt, daß Bebel in seinen Lebenserinnerungen sagt, daß er gegen die Bewilligung der Anleihe gestimmt haben würde, wenn er bei der Abstimmung schon alles gewußt hätte, was erst in den nächsten Jahren bekannt geworden ist.

In jenem Kriege also, den die gesamte bürgerliche Öffentlichkeit und

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[1] Der Krieg Preußens gegen Österreich vom Juni bis Juli 1866 entschied die Rivalität um die Vorherrschaft in Deutschland zugunsten Preußens. Im Prager Frieden vom 23. August 1866 mußte Österreich der Auflösung des Deutschen Bundes zustimmen und schied aus dem zukünftigen deutschen Staatsverband aus.

[2] August Bebel: Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 1, Berlin 1970, S. 117.