Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 64

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gegeben wurde. Alles andere ergab sich daraus als einfache Folge: Die Haltung der Parteipresse und der Gewerkschaftspresse, der patriotische Taumel der Massen, der Burgfrieden, die plötzliche Auflösung der Internationale – alles war nur unvermeidliche Konsequenz der ersten Orientierung, die im Reichstag getroffen wurde.

Wenn es sich wirklich um die Existenz der Nation, um die Freiheit handelt, wenn diese nur mit dem Mordeisen verteidigt werden kann, wenn der Krieg eine heilige Volkssache ist – dann wird alles selbstverständlich und klar, dann muß alles in Kauf genommen werden. Wer den Zweck will, muß die Mittel wollen. Der Krieg ist ein methodisches, organisiertes, riesenhaftes Morden. Zum systematischen Morden muß aber bei normal veranlagten Menschen erst der entsprechende Rausch erzeugt werden. Dies ist seit jeher die wohlbegründete Methode der Kriegführenden. Der Bestialität der Praxis muß die Bestialität der Gedanken und der Gesinnung entsprechen, diese muß jene vorbereiten und begleiten. Alsdann sind der „Wahre Jacob” vom 28. August mit dem Bild des deutschen „Dreschers”, die Parteiblätter in Chemnitz, Hamburg, Kiel, Frankfurt, Coburg u. a. mit ihrer patriotischen Hetze in Poesie und Prosa das entsprechende und notwendige geistige Narkotikum für ein Proletariat, das nur noch seine Existenz und Freiheit retten kann, indem es das tödliche Eisen in die Brust russischer, französischer und englischer Brüder stößt. Jene Hetzblätter sind dann konsequenter als diejenigen, die Berg und Tal zusammenbringen, Krieg mit „Humanität”, Morden mit Bruderliebe, Bewilligung von Mitteln zum Kriege mit sozialistischer Völkerverbrüderung vermählen wollen.

War aber die von der deutschen Reichstagsfraktion am 4. August ausgegebene Parole richtig, dann wäre damit über die ArbeiterInternationale das Urteil nicht nur für diesen Krieg, sondern überhaupt gesprochen. Zum ersten Male, seit die moderne Arbeiterbewegung besteht, gähnt hier ein Abgrund zwischen .den Geboten der Internationalen Solidarität der Proletarier und den Interessen der Freiheit und nationalen Existenz der Völker, zum ersten Male stehen wir vor der Entdeckung, daß Unabhängigkeit und Freiheit der Nationen gebieterisch erfordern, daß die Proletarier verschiedener Zungen einander niedermachen und ausrotten. Bisher lebten wir in der Überzeugung, daß Interessen der Nationen und Klasseninteressen der Proletarier sich harmonisch vereinigen, daß sie identisch sind, daß sie unmöglich in Gegensatz zueinander geraten können. Das war die Basis unserer Theorie und Praxis, die Seele unserer Agitation in den Volksmassen. Waren wir in diesem Kardinalpunkt unserer Weltanschauung in

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