Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 55

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am 5. August 1914 schrieb, „das Juwel der Organisation des klassenbewußten Proletariats”. In ihre Fußtapfen traten immer eifriger die französische, die italienische und die belgische Sozialdemokratie, die Arbeiterbewegung Hollands, Skandinaviens, der Schweiz, der Vereinigten Staaten. Die slawischen Länder aber, die Russen, die Sozialdemokraten des Balkans blickten zu ihr mit schrankenloser, beinahe kritikloser Bewunderung auf. In der Zweiten Internationale spielte der deutsche „Gewalthaufen” die ausschlaggebende Rolle. Auf den Kongressen, in den Sitzungen des Internationalen Sozialistischen Büros wartete alles auf die deutsche Meinung. Ja, gerade in den Fragen des Kampfes gegen den Militarismus und den Krieg trat die deutsche Sozialdemokratie stets entscheidend auf. „Für uns Deutsche ist dies unannehmbar” genügte regelmäßig, um die Orientierung der Internationale zu bestimmen. Mit blindem Vertrauen ergab sie sich der Führung der bewunderten, mächtigen deutschen Sozialdemokratie: Diese war der Stolz jedes Sozialisten und der Schrecken der herrschenden Klassen in allen Ländern.

Und was erlebten wir in Deutschland, als die große historische Probe kam? Den tiefsten Fall, den gewaltigsten Zusammenbruch. Nirgends ist die Organisation des Proletariats so gänzlich in den Dienst des Imperialismus gespannt, nirgends wird der Belagerungszustand so widerstandslos ertragen, nirgends die Presse so geknebelt, die öffentliche Meinung so erwürgt, der wirtschaftliche und politische Klassenkampf der Arbeiterklasse so gänzlich preisgegeben wie in Deutschland.

Aber die deutsche Sozialdemokratie war nicht bloß der stärkste Vortrupp, sie war das denkende Hirn der Internationale. Deshalb muß in ihr und an ihrem Fall die Analyse, der Selbstbesinnungsprozeß ansetzen. Sie hat die Ehrenpflicht, mit der Rettung des Internationalen Sozialismus, d. h. mit schonungsloser Selbstkritik, voranzugehen. Keine andere Partei, keine andere Klasse der bürgerlichen Gesellschaft darf die eigenen Fehler, die eigenen Schwächen im klaren Spiegel der Kritik vor aller Welt zeigen, denn der Spiegel wirft ihr zugleich die vor ihr stehende geschichtliche Schranke und das hinter ihr stehende geschichtliche Verhängnis zurück. Die Arbeiterklasse darf stets ungescheut der Wahrheit, auch der bittersten Selbstbezichtigung ins Antlitz blicken, denn ihre Schwäche ist nur eine Verirrung, und das strenge Gesetz der Geschichte gibt ihr die Kraft zurück, verbürgt ihren endlichen Sieg.

Die schonungslose Selbstkritik ist nicht bloß das Daseinsrecht, sie ist auch die oberste Pflicht der Arbeiterklasse. An unserem Bord führten wir die höchsten Schätze der Menschheit, zu deren Hüter das Proletariat be-

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