Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 54

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der spontanen Revolutionen, Aufstände, Barrikadenkämpfe, nach denen das Proletariat jedesmal wieder in seinen passiven Zustand zurückfiel, begann der systematische Tageskampf, die Ausnutzung des bürgerlichen Parlamentarismus, die Massenorganisation, die Vermählung des wirtschaftlichen mit dem politischen Kampfe und des sozialistischen Ideals mit der hartnäckigen Verteidigung der nächsten Tagesinteressen. Zum ersten Male leuchtete der Sache des Proletariats und seiner Emanzipation der Leitstern einer streng wissenschaftlichen Lehre. Statt der Sekten, Schulen, Utopien, Experimente in jedem Lande auf eigene Faust erstand eine einheitliche Internationale theoretische Grundlage, die Länder wie Zeilen in einem Band verschlang. Die marxistische Erkenntnis gab der Arbeiterklasse der ganzen Welt einen Kompaß in die Hand, um sich im Strudel der Tagesereignisse zurechtzufinden, um die Kampftaktik jeder Stunde nach dem unverrückbaren Endziel zu richten.

Trägerin, Verfechterin und Hüterin dieser neuen Methode war die deutsche Sozialdemokratie. Der Krieg von 1870 und die Niederlage der Pariser Kommune hatten den Schwerpunkt der europäischen Arbeiterbewegung nach Deutschland verlegt. Wie Frankreich die klassische Stätte der ersten Phase des proletarischen Klassenkampfes, wie Paris das pochende und blutende Herz der europäischen Arbeiterklasse in jener Zeit gewesen war, so wurde die deutsche Arbeiterschaft zur Vorhut der zweiten Phase. Sie hat durch zahllose Opfer der unermüdlichen Kleinarbeit die stärkste und mustergültigste Organisation ausgebaut, die größte Presse geschaffen, die wirksamsten Bildungs- und Aufklärungsmittel ins Leben gerufen, die gewaltigsten Wählermassen um sich geschart, die zahlreichsten Parlamentsvertretungen errungen. Die deutsche Sozialdemokratie galt als die reinste Verkörperung des marxistischen Sozialismus. Sie hatte und beanspruchte eine Sonderstellung als die Lehrmeisterin und Führerin der Zweiten Internationale. Friedrich Engels schrieb im Jahre 1895 in seinem berühmten Vorwort zu Marxens „Klassenkämpfen in Frankreich”: „Was aber auch in anderen Ländern geschehen möge, die deutsche Sozialdemokratie hat eine besondere Stellung und damit wenigstens zunächst auch eine besondere Aufgabe. Die zwei Millionen Wähler, die sie an die Urnen schickt, nebst den jungen Männern und den Frauen, die als Nichtwähler hinter ihnen stehen, bilden die zahlreichste, kompakteste Masse, den entscheidenden ,Gewalthaufen’ der Internationalen proletarischen Armee.”[1] Die deutsche Sozialdemokratie war, wie die Wiener „Arbeiter-Zeitung”

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[1] Friedrich Engels: Einleitung zu Marx’ „Klassenkämpfe in Frankreich”. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 22, S. 524.