Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 40

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verkehrtere geschichtliche Perspektive zur Orientierung des Proletariers läßt sich offenbar aus dem heutigen Weltkriege nicht ableiten.

Aber diese wunderliche Geschichtsauffassung hat eine sehr ernste praktische Seite. Es ist klar, daß das Wiedererwachen, in den Reihen der Sozialdemokratie in Deutschland wie anderwärts, zum Internationalen Klassenbewußtsein sich in dem Maße vollzieht, wie die Arbeiter sich vom Bann der nationalistischen Hypnose frei machen, in die sie von den herrschenden Klassen wie von den eigenen Parteiführern während des jetzigen Kriegsgemetzels hineingetrieben worden sind, in dem Maße, wie sie sich über den imperialistischen Charakter des Krieges und die ihnen daraus erwachsenden großen Aufgaben klarwerden. Nun liefert Kautsky einerseits gerade jetzt, mitten in den nationalistischen Orgien der Kriegshetzer, eine überschwängliche Apologie des Nationalismus, die stärkste Betonung des nationalistischen Gedankens, den er mit „demokratischem Empfinden” identifiziert, andererseits löst er den Imperialismus als historische Phase in theoretischen Dunst auf. Und als Moral von der Geschichte: ein „Friedensprogramm” der Sozialdemokratie, das neben der Ablehnung der Annexionen die „Abrüstung” auf die Hälfte oder auf ein Viertel – wie es vorigen September [1914] in der „Neuen Zeit”, Seite 971, hieß – und einen europäischen Staatenbund oder Zollverein mit freihändlerischen Handelsverträgen umfaßt. Also neue Rezepte und Projekte! Statt Aktion, statt Klassenkampf hält Kautsky für unsere dringendste Aufgabe in dieser Situation, Ratschläge an die bürgerliche Gesellschaft zu erteilen, wie sie durch Demokratie, Freihandel und hübsche kleine Defensivkriege „am besten” ihre eigenen Geschäfte besorgen kann, so zwar, daß bei diesem sanft flackernden geschichtlichen Feuer auch das Süpplein des Proletariats unmerklich gargekocht wird. Daß er uns diese freundlichen Aussichten nach dem Kriege, die den Imperialismus und das Wettrüsten „ablösen” könnten, als die heilige Allianz der „Imperialisten”, also wohl das Gegenteil von Demokratie und Freihandel und eher als eine Ara der schwärzesten Reaktion ausgemalt hat (Neue Zeit vom 11. September 1914, S. 922), tut wohl nichts zur Sache. Daß sein Staatenbund alias Zollverein nichts als ein Abklatsch der früher von Prof. Julius Wolf, von Max Schippel, jetzt wieder von den offiziellen Herolden des Imperialismus, den Losch, Liszt u. a„ immer wieder vorgerittenen Projekte der reaktionären Zollpolitik mit einer Spitze bald gegen die Vereinigten Staaten von Amerika, bald gegen England ist, scheint Kautsky auch nicht weiter zu genieren.

Kautsky zieht in seiner Broschüre gegen „die Rechte” der Partei, gegen

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