Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 38

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Hat so der Imperialismus schon vor dem Krieg gar nicht existiert, so wird er nach dem Kriege – das hat Kautsky schon im September vorigen Jahres prophezeit – erst recht aufhören zu existieren. „Der Export von Kapitalien aus den Industriestaaten, diese Quelle des Imperialismus und damit letzte Ursache des Krieges, hört, zunächst wenigstens, auf.” Denn einerseits werden die europäischen Industriestaaten nach dem Kriege „andere Sorgen haben”, als Imperialismus zu treiben, andererseits „entziehen sich” die Agrarstaaten immer mehr der Ausbeutung durch den Imperialismus (Neue Zeit [32. Jg. 1913/1914], Nr. 23, S. 970). Also war der ganze Imperialismus und namentlich der gegenwärtige Weltkrieg im Grunde genommen „viel Lärm um nichts”. Wie brach denn der Krieg nach alledem aus? Na, eben – bloß aus dem Wettrüsten und der Mobilisierung! (S. 65.)

Wozu all diese Gymnastik, fragst du, lieber Leser? Wozu so viel edler Schweiß und Mühe, um allgemein bekannte Tatsachen, die jetzt in den Gassen gellen, zu bestreiten? Die Antwort gibt uns Kautsky mit der folgenden Entdeckung: Wer „behauptet, der Imperialismus sei im jetzigen Stadium der kapitalistischen Produktion für diese unerläßlich”, der „besorgt damit die Geschäfte der Imperialisten …, erhöht ihren geistigen Einfluß in der Volksmasse und damit ihre Macht” (S. 22). Also „behauptet” Kautsky das Gegenteil. Er „behauptet”, daß der Imperialismus gar nicht ökonomisch notwendig, sondern „nur eine Machtfrage” sei, daß die Ausdehnung des Kapitals „am besten” nicht durch die gewalttätigen Methoden des Imperialismus, sondern „durch die friedliche Demokratie” gefördert werde. (S. 70.) Wie einfach und einleuchtend! Marx behauptete, daß die Kapitalsherrschaft auf einer gewissen Stufe eine unerläßliche ökonomische Notwendigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung sei, damit besorgte er natürlich die Geschäfte der Kapitalisten, erhöhte ihren geistigen Einfluß und ihre Macht. Engels behauptete, die Aktiengesellschaften seien eine ökonomische Notwendigkeit der kapitalistischen Produktion, und besorgte damit die Geschäfte der Aktionäre, erhöhte wohl ihre Dividenden. Die Sozialdemokratie behauptete bis jetzt, daß der heutige Militarismus eine historische Notwendigkeit als Werkzeug der kapitalistischen Klassenherrschaft sei, und besorgte damit die Interessen der Militaristen, erhöhte ihren Einfluß und ihre Macht. Das ist alles sonnenklar, und Lassalle kann sich mit seinem „Aussprechen dessen, was ist”, nochmals begraben lassen.

Nur vergißt Kautsky, daß uns seine rettende Entdeckung von der Nichtnotwendigkeit des Imperialismus, der „nur” eine Machtfrage sei, schließlich mageren Trost gewährt. Denn „die Macht” ist – wie Engels

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