Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 376

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bungen vorzunehmen, um den Westmächten nicht in den Rücken zu fallen. Die deutschen Militärs dürften sich bei dieser Ankündigung ins Fäustchen gelacht haben, da sie jedenfalls auch wissen, wo Bartel den Most holt. Zu Hunderttausenden sind deutsche Truppen noch vor der Unterzeichnung des Waffenstillstandes von Rußland nach Italien und Flandern verladen worden. Die letzten blutigen deutschen Vorstöße bei Cambrai und im Süden die neuen „glänzenden” Erfolge in Italien sind bereits Wirkungen des bolschewistischen Novemberumsturzes in Petersburg.

Noch warm von Verbrüderungsszenen mit russischen revolutionären Soldaten, von gemeinsamen photographischen Gruppenaufnahmen, Gesängen und Hochs auf die Internationale, stürzen sich bereits die deutschen „Genossen” mit aufgekrempelten Armeln in heldenmütigen Massenaktionen ins Feuer, um ihrerseits französische, englische und italienische Proletarier abzuschlachten. Durch die frische Massenzufuhr deutschen Kanonenfutters wird das Gemetzel an der ganzen West- und Südfront mit zehnfacher Kraft auflodern. Daß Frankreich, England und Amerika dadurch zu äußersten, verzweifelten Anstrengungen veranlaßt werden, liegt auf der Hand. Und so ergeben sich als nächste Wirkungen des russischen Waffenstillstands und des ihm auf dem Fuße folgenden Sonderfriedens im Osten nicht die Beschleunigung des allgemeinen Friedens, sondern erstens die Verlängerung des Völkermordens und ungeheuere Steigerung seines blutigen Charakters, was auf beiden Seiten Opfer fordern wird, gegen die alles bisherige erblassen dürfte; zweitens eine enorme Stärkung der militärischen Position Deutschlands und damit seiner verwegensten Annexionspläne und Appetite.

Im Osten ist die Annexion Polens, Litauens und Kurlands, sei es in offener oder vorerst noch verschleierter Form, zwischen den Mittelmächten eine abgemachte Sache, und der deutsche Imperialismus rechnet natürlich angesichts der tatsächlichen Stellung Rußlands mit dessen ernstem Widerstand bei den Sonderfriedensverhandlungen überhaupt nicht mehr.

Aber auch im Westen gedenkt er nunmehr, jeder Sorge im Osten entledigt und mit frischen Reserven versehen, ganz anders aufzuspielen als früher. Die durch seine bisherige prekäre Lage erzwungene Maske der tugendhaften Enthaltsamkeit wird er nächstens lachend den Scheidemännern in den Schoß schmeißen, und, wenn Gott gibt, der ja bekanntlich mit den stärksten Bataillonen ist, einen „deutschen Frieden” diktieren. In ihren jüngsten Reden pfeif en auch bereits die Czernin[1] und Kon-

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[1] Ottokar Graf Czernin von und zu Chudenitz, seit 1916 österreichischer Außenminister, war Leiter der österreichischen Delegation bei den Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk.