Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 372

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gen Nationen”, die wie Lämmer weiß und unschuldig auf die Grasweide der Weltgeschichte hüpfen, blickt schon der Karfunkelblick des grimmen Tigers, der auf eine „Abrechnung” mit der ersten Regung des „Bolschewismus” wartet. Hinter all den idyllischen Banketten und rauschenden Verbrüderungsfesten in Wien, in Prag, in Agram, in Warschau gähnen schon Mannerheims offene Gräber, die sich Rotgardisten selbst schaufeln müssen, schimmern wie undeutliche Schatten die Galgen von Charkow, zu deren Errichtung die Lubinskys und Holubowitschs die deutschen „Befreier” in die Ukraine luden.

Und derselbe Grundgedanke beherrscht das ganze demokratische Friedensprogramm Wilsons. Der „Völkerbund” in der Atmosphäre der Siegestrunkenheit des anglo-amerikanischen Imperialismus und des auf der Weltbühne umgehenden Schreckgespenstes des Bolschewismus kann nur eins hervorbringen: einen bürgerlichen Weltbund zur Niederhaltung des Proletariats. Das erste dampfende Opfer, das der Hohepriester Wilson an der Spitze seiner Auguren vor der Bundeslade des „Völkerbundes” bringen wird, wird das bolschewistische Rußland sein, über das sich die „selbstbestimmten Nationen”, Sieger und Besiegte zusammen, stürzen werden.

Hier zeigen die herrschenden Klassen wieder einmal ihren untrüglichen Instinkt für ihre Klasseninteressen, ihre wunderbar feine Sensibilität für die ihnen drohenden Gefahren. Während äußerlich für die Bourgeoisie das schönste Wetter herrscht und die Proletarier aller Länder sich an dem nationalistischen und völkerbündlerischen Lenzeswehen berauschen, spürt die bürgerliche Gesellschaft ein Reißen in allen Gliedern, das ihr den bevorstehenden historischen Barometersturz und Witterungsumschlag ankündigt. Während die Sozialisten mit tölpelhaftem Eifer ihr als „nationale Minister” Kastanien des Friedens aus dem Feuer des Weltkrieges zu holen trachten, sieht sie hinter ihrem Rücken schon das unvermeidliche, nahende Verhängnis: das sich aufreckende Riesengespenst der sozialen Weltrevolution, das schweigend im Hintergrunde die Bühne betreten hat.

Die objektive Unlösbarkeit der Aufgaben, vor die sich die bürgerliche Gesellschaft gestellt sieht, diese ist es, die den Sozialismus zur historischen Notwendigkeit und die Weltrevolution unvermeidlich macht.

Wie lange diese letzte Periode dauern, welche Formen sie annehmen wird, kann niemand voraussehen. Die Geschichte hat das ausgefahrene Geleise und den gemütlichen Trott verlassen, und jeder neue Schritt, jede neue Wendung des Weges eröffnen neue Perspektiven und eine neue Szenerie.

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