Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 371

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Dies alles freilich zunächst nur im Bewußtsein der herrschenden Klassen. Genau wie die Junitage mit der Kraft eines elektrischen Schlages augenblicklich der Bourgeoisie aller Länder das Bewußtsein des unversöhnlichen Klassengegensatzes zur Arbeiterklasse eingeprägt, den tödlichen Haß zum Proletariat in die Herzen gegossen hatten, während die Arbeiter aller Länder selbst Jahrzehnte brauchten, um sich die Lehren der Junitage, dasBewußtsein des Klassengegensatzes anzueignen, so wiederholt sich das auch jetzt: Die russische Revolution hat in sämtlichen besitzenden Klassen sämtlicher Länder der Welt einen glühenden, schäumenden, zitternden Schreck und Haß gegen das drohende Gespenst der proletarischen Diktatur geweckt, wie er sich nur mit den Gefühlen der Pariser Bourgeoisie während der Junimetzelei und der Kommuneabschlachtung messen kann. Der „Bolschewismus” ist das Stichwort für den praktischen revolutionären Sozialismus, für alle Bestrebungen der Arbeiterklasse zur Machteroberung geworden. In diesem Aufreißen des sozialen Abgrunds im Schoße der bürgerlichen Gesellschaft, in dieser Internationalen Vertiefung und Zuspitzung des Klassengegensatzes liegt das geschichtliche Verdienst des Bolschewismus, und in diesem Werk – wie immer in großen historischen Zusammenhängen – verschwinden wesenlos alle besonderen Fehler und Irrtümer des Bolschewismus.

Diese Gefühle sind heute der innerste Kern der nationalistischen Delirien, in die die kapitalistische Welt anscheinend verfallen ist, sie sind der objektive historische Inhalt, auf den sich die kunterbunte Musterkarte der sich anmeldenden Nationalismen in Wirklichkeit reduziert. In allen den kleinen jungen Bourgeoisien, die nun zum selbständigen Dasein streben, zittert nicht bloß der Wunsch nach Gewinnen ungehemmter und unbevormundeter Klassenherrschaft, sondern auch nach den so lange entbehrten Wonnen der eigenhändigen Erdrosselung des Todfeindes – des revolutionären Proletariats, welche Funktion sie bis jetzt einem ungefügen staatlichen Apparat der Fremdherrschaft überlassen mußtei:. Haß wie Liebe läßt man ungern durch Dritte ausüben. Die Blutorgien Mannerheims[1], des finnischen Galliffet, zeigen, wieviel in der Gluthitze des letzten Jahres aufgesprossener Haß in den Busen all dieser „kleinen Nationen”, all der Polen, Litauer, Rumänen, Ukrainer, Tschechen, Kroaten usw„ nur auf die Möglichkeit wartet, endlich selbst mit „nationalen” Mitteln in den Eingeweiden des revolutionären Proletariats zu wühlen. Aus allen diesen „jun-

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[1] Die von Carl Gustav Mannerheim geführten weißgardistischen Truppen hatten im Mai 1918 zusammen mit deutschen Truppen die finnische Revolution, die im Januar 1918 begonnen hatte, niedergeschlagen. Zehntausende Revolutionäre wurden Opfer der Konterrevolution.