Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 370

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saugung seitens des englischen Kapitals zu dienen; dieser Nationalismus entspricht also seinem sozialen Gehalt und seiner historischen Stufe nach den Emanzipationskämpfen der Vereinigten Staaten von Amerika am Ausgang des 18. Jahrhunderts.

So spiegelt der Nationalismus alle denkbaren Interessen, Nuancen, geschichtlichen Situationen wider. Er schillert in allen Farben. Er ist nichts und alles, er ist bloß die ideologische Hülle, alles kommt darauf an, seinen jeweiligen sozialen Kern zu bestimmen.

So birgt die allgemeine augenblickliche Weltexplosion des Nationalismus das bunteste Durcheinander verschiedenster Spezialinteressen und Tendenzen in ihrem Schoße. Aber durch alle diese Spezialinteressen geht richtunggebend als Achse ein allgemeines, von der besonderen geschichtlichen Situation geschaffenes Interesse: die Spitze gegen die drohende Weltrevolution des Proletariats.

Die russische Revolution mit der von ihr hervorgebrachten Bolschewiki-Herrschaft hat das Problem der sozialen Revolution auf die Tagesordnung der Geschichte gestellt. Sie hat den Klassengegensatz zwischen Kapital und Arbeit ganz allgemein auf die äußerste Spitze getrieben. Sie hat plötzlich zwischen den beiden Klassen einen gähnenden Abgrund aufgetan, aus dem vulkanische Dämpfe aufwallen und feurige Flammen aufzüngeln. Wie seinerzeit der Juniaufstand des Pariser Proletariats und die Junischlächterei zum erstenmal die bürgerliche Gesellschaft praktisch in zwei gegensätzliche Klassen gespalten hat, zwischen denen es nur ein Gesetz geben kann: Kampf auf Leben und Tod, so hat die Bolschewiki-Herrschaft in Rußland die bürgerliche Gesellschaft praktisch vor diesen Endkampf auf Tod und Leben von Angesicht zu Angesicht gestellt. Sie hat vernichtet und verweht die Fiktion von der zahmen Arbeiterklasse, mit der man sich schiedlich-friedlich einrichtet, von dem Sozialismus, der theoretisch unschädliche Phrasen bramarbasiert, praktisch aber dem Grundsatz huldigt: leben und leben lassen – jene Fiktion, die durch die Praxis der letzten dreißig Jahre der deutschen Sozialdemokratie und in ihren Fußtapf en der ganzen Internationale entstanden war. Die russische Revolution hat plötzlich mit rauher Faust den durch das letzte halbe Jahrhundert des Parlamentarismus geschaffenen Modus vivendi zwischen Sozialismus und Kapitalismus zerstört und den Sozialismus aus einer harmlosen Phrase der Wahlagitation, der blauen Zukunftsferne zum blutig ernsten Problem der Gegenwart, des heutigen Tages gemacht. Sie hat die alte, seit den Pariser Junitagen des Jahres 1848 vernarbte furchtbare Wunde der bürgerlichen Gesellschaft brutal aufgerissen.

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