Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 348

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und Trotzki mit ihren Freunden, die für jede Art utopistische Phraseologie wie Abrüstung, Völkerbund etc. nur ein ironisches Achselzucken haben, diesmal eine hohle Phrase von genau derselben Kategorie geradezu zu ihrem Steckenpferd machten, so geschah es, wie es uns scheint, aus einer Art Opportunitätspolitik. Lenin und Genossen rechneten offenbar darauf, daß es wohl kein sichereres Mittel gäbe, die vielen fremden Nationalitäten im Schoße des russischen Reiches an die Sache der Revolution, an die Sache des sozialistischen Proletariats zu fesseln, als wenn man ihnen im Namen der Revolution und des Sozialismus die äußerste unbeschränkteste Freiheit gewährte, über ihre Schicksale zu verfügen. Es war dies eine Analogie zu der Politik der Bolschewiki den russischen Bauern gegenüber, deren Landhunger die Parole der direkten Besitzergreifung des adeligen Grund und Bodens befriedigt und die dadurch an die Fahne der Revolution und der proletarischen Regierung gefesselt werden sollten. In beiden Fällen ist die Berechnung leider gänzlich fehlgeschlagen. Während Lenin und Genossen offenbar erwarteten, daß sie als Verfechter der nationalen Freiheit „bis zur staatlichen Absonderung” Finnland, die Ukraine, Polen, Litauen, die Baltenländer, die Kaukasier usw. zu ebenso vielen treuen Verbündeten der russischen Revolution machen würden, erlebten wir das umgekehrte Schauspiel: Eine nach der anderen von diesen „Nationen” benutzte die frisch geschenkte Freiheit dazu, sich als Todfeindin der russischen Revolution gegen sie mit dem deutschen Imperialismus zu verbünden und unter seinem Schutze die Fahne der Konterrevolution nach Rußland selbst zu tragen. Das Zwischenspiel mit der Ukraine in Brest[1], das eine entscheidende Wendung jener Verhandlungen und der ganzen inner- und außenpolitischen Situation der Bolschewiki herbeigeführt hatte, ist dafür ein Musterbeispiel. Das Verhalten Finnlands, Polens, Litauens, der Baltenländer, der Nationen des Kaukasus zeigt in überzeugendster Weise, daß wir hier nicht etwa mit einer zufälligen Ausnahme, sondern mit einer typischen Erscheinung zu tun haben.

Freilich, es sind in allen diesen Fällen in Wirklichkeit nicht die „Nationen”, die jene reaktionäre Politik betätigten, sondern nur die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Klassen, die im schärfsten Gegensatz zu den eigenen proletarischen Massen das „nationale Selbstbestimmungsrecht” zu einem Werkzeug ihrer konterrevolutionären Klassenpolitik verkehrten. Aber

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[1] Die nationalistische Ukrainische Zentralrada hatte am 27. Januar 1918 mit den Mittelmächten einer Vertrag unterzeichnet, obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits ihr Regime zusammengebrochen war und die Sowjetmacht fast in der gesamten Ukraine gesiegt hatte. Deutschland erhielt durch den Vertrag das Recht zur Besetzung der Ukraine und erhob während der Verhandlungen in Brett-Litowsk am 27. und 28. Januar 1918 annexionistische Forderungen in ultimativer Form.