Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 349

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-4/seite/349

damit kommen wir gerade zum Knotenpunkt der Frage – darin liegt eben der utopisch-kleinbürgerliche Charakter dieser nationalistischen Phrase, daß sie in der rauhen Wirklichkeit der Klassengesellschaft, zumal in der Zeit aufs äußerste verschärfter Gegensätze, sich einfach in ein Mittel der bürgerlichen Klassenherrschaft verwandelt. Die Bolschewiki sollten zu ihrem und der Revolution größten Schaden darüber belehrt werden, daß es eben unter der Herrschaft des Kapitalismus keine Selbstbestimmung der „Nation” gibt, daß sich in einer Klassengesellschaft jede Klasse der Nation anders „selbstzubestimmen” strebt, daß für die bürgerlichen Klassen die Gesichtspunkte der nationalen Freiheit hinter denen der Klassenherrschaft völlig zurücktreten. Das finnische Bürgertum wie das ukrainische Kleinbürgertum waren darin vollkommen einig, die deutsche Gewaltherrschaft der nationalen Freiheit vorzuziehen, wenn diese mit den Gefahren des „Bolschewismus” verbunden werden sollte.

Die Hoffnung, diese realen Klassenverhältnisse etwa durch „Volksabstimmungen”, um die sich alles in Brest drehte, in ihr Gegenteil umzukehren und im Vertrauen auf die revolutionäre Volksmasse ein Mehrheitsvotum für den Zusammenschluß mit der russischen Revolution zu erzielen, war, wenn sie von Lenin–Trotzki ernst gemeint war, ein unbegreiflicher Optimismus und, wenn sie nur ein taktischer Florettstoß im Duell mit der deutschen Gewaltpolitik sein sollte, ein gefährliches Spiel mit dem Feuer. Auch ohne die deutsche militärische Okkupation hätte die famose „Volksabstimmung”, wäre es in den Randländern zu einer solchen gekommen, bei der geistigen Verfassung der Bauernmasse und großer Schichten noch indifferenter Proletarier, bei der reaktionären Tendenz des Kleinbürgertums und den tausend Mitteln der Beeinflussung der Abstimmung durch die Bourgeoisie, mit aller Wahrscheinlichkeit allenthalben ein Resultat ergeben, an dem die Bolschewiki wenig Freude erlebt hätten. Kann es doch in Sachen dieser Volksabstimmungen über die nationale Frage als unverbrüchliche Regel gelten, daß die herrschenden Klassen sie entweder, wo ihnen eine solche nicht in den Kram paßt, zu verhindern wissen oder, wo sie etwa zustande käme, ihre Resultate durch all die Mittel und Mittelchen zu beeinflussen wüßten, die es auch bewirken, daß wir auf dem Wege von Volksabstimmungen keinen Sozialismus einführen können.

Daß überhaupt die Frage der nationalen Bestrebungen und Sondertendenzen mitten in die revolutionären Kämpfe hineingeworfen, ja durch den Brester Frieden in den Vordergrund geschoben und gar zum Schibboleth der sozialistischen und revolutionären Politik gestempelt wurde, hat die größte Verwirrung in die Reihen des Sozialismus getragen und die Posi-

Nächste Seite »