Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 326

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Halsbandaffäre des russischen Ancien régime, ein jüdischer Ritualmordprozeß, der berühmte Beilis-Prozeß des Jahres 1913, war. Als verspäteter Nachzügler der finsteren konterrevolutionären Periode der Jahre 1907 bis 1911, zugleich symbolischer Vorbote des Weltkrieges, wurde der Kischinjower Ritualmordprozeß sofort zum Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Die gesamte fortschrittliche Intelligenz Rußlands erklärte die Sache des Kischinjower jüdischen Schlächtermeisters für die ihrige, der Prozeß verwandelte sich in eine Generalschlacht zwischen dem freiheitlichen und dem reaktionären Lager Rußlands. Gewiegteste Juristen, beste journalistische Federn stellten sich in den Dienst der Sache. Nach allem Vorhergehenden braucht nicht erst gesagt zu werden, daß Korolenko mit an der Spitze war. Knapp bevor der blutige Vorhang des Weltkrieges aufgerollt werden sollte, trug die Reaktion in Rußland eine betäubende moralische Niederlage davon: Unter dem Ansturm der oppositionellen Intelligenz brach die Ritualmordanklage zusammen und enthüllte zugleich die Hypokratuszüge des zaristischen Regiments, das, innerlich bereits morsch und tot, auf den Gnadenstoß der freiheitlichen Bewegung wartete. Der Weltkrieg verhalf ihm nur noch zu einer letzten kurzen Gnadenfrist.

Allein, nicht nur soziale Hilfsaktion und moralischer Protest gegen jegliches Unrecht fanden in Korolenko jederzeit ihren Wortführer. In den 80er Jahren, nach dem Attentat auf Alexander II„ war über Rußland eine Periode starrster Hoffnungslosigkeit hereingebrochen. Die liberalen Reformen der 60er Jahre wurden in der Gerichtsbarkeit, der ländlichen Selbstverwaltung allenthalben zurückrevidiert. Friedhofsruhe herrschte unter den Bleidächern der Regierung Alexanders III. Der russischen Gesellschaft, die durch das Scheitern aller Hoffnungen auf friedliche Reformen wie durch die anscheinende Wirkungslosigkeit der revolutionären Bewegung gleichermaßen entmutigt war, bemächtigte sich eine gedrückte, resignierte Stimmung.

In dieser Atmosphäre der Apathie und Verzagtheit kamen unter der russischen Intelligenz metaphysisch-mystische Strömungen auf, wie sie durch die philosophische Schule Solowjows vertreten wurden, Nietzsches Einflüsse ließen sich deutlich spüren, in der schönen Literatur herrschte der hoffnungslos-pessimistische Ton der Novellen Garschins und der Gedichte Nadsons. Vor allem aber entsprach jener Stimmung der Mystizismus Dostojewskis, wie er in den „Karamasows” zum Ausdruck kommt, und namentlich die asketischen Lehren Tolstois. Die Propaganda des „Nichtwiderstehens dem Übel”, die Verpönung aller Gewaltanwendung im Kampfe mit der herrschenden Reaktion, der man nur die „innere Läute-

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