Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 327

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rung” des Individuums entgegenzustellen habe, diese Theorien der sozialen Passivität wurden in der Stimmung der 80er Jahre zur ernsten Gefahr für die russische Intelligenz, zumal sie sich so berückender Mittel bedienen konnte wie der Feder und der moralischen Autorität Leo Tolstois.

Michailowski, das geistige Haupt der Richtung der Volkstümler[1], richtete darauf gegen Tolstoi eine bitterböse Polemik. Korolenko seinerseits trat vor. Er, der zartbesaitete Dichter, dem ein Erlebnis aus Kindheitsjahren im rauschenden Walde, eine Knabenwanderung an dunklem Abend über ein ödes Feld, ein Landschaftsbild in allen Nuancen der Beleuchtung und der Stimmung zeitlebens nachgehen, er, dem politische Parteiungen im Grunde genommen stets etwas Fremdes und Abstoßendes blieben, erhob jetzt entschlossen seine Stimme, um wehrhaften, schwertblitzenden Haß und tatkräftigen Widerstand zu predigen. Auf die Tolstoischen Legenden, Parabeln und Erzählungen im Stile der Evangelien antwortete Korolenko mit der „Legende vom Florus”.

In Judäa herrschten die Römer mit Schwert und Feuer, plünderten das Land und sogen die Bewohner aus. Das Volk stöhnte und beugte sich unter dem verhaßten Joch. Vom Anblick der Leiden seines Volkes ergriff en, erhebt sich der weise Menachem, der Sohn Jehudas, appelliert an die Heldentraditionen der Vorfahren und predigt den Aufstand gegen die Römer, den „heiligen Krieg”. Dem tritt die Sekte der sanftmütigen Sossäer entgegen, die gleich Tolstoi jede Gewaltanwendung verpönen und nur in der inneren Läuterung, der Weltflucht und der Entsagung das Heil erblicken. „Mit deinem Aufruf zum Kampfe säest du Unheil!” rufen sie Menachem zu. „Wird eine Stadt belagert und sie leistet Widerstand, dann pflegen die Belagerer den unterwürfigen Einwohnern das Leben zu schenken, jene aber, so Widerstand geleistet haben, dem Tode zu überantworten. Wir predigen unserem Volke Unterwürfigkeit, damit es vor dem Untergang bewahrt werde … Man trocknet nicht Wasser mit Wasser und löscht nicht Feuer mit Feuer. So wird auch die Gewalt nicht durch Gewalt überwunden, denn sie ist selbst von Übel.”

Darauf antwortete Menachem, der Sohn Jehudas, unbeirrt: „Gewalt ist weder Wohltat noch Übel, sie ist Gewalt; wohl oder übel ist nur ihre Anwendung. Die Gewalt des Armes ist ein Übel, wenn er zum Raub und

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[1] Die revolutionäre Bewegung der Volkstümler war in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden. Die Volkstümler, die die Gesetzmäßigkeit der kapitalistischen Entwicklung Rußlands nicht erfaßten, hielten die Dorfgemeinschaft für die Keimzelle des Sozialismus und die Bauernschaft für die revolutionäre Hauptkraft. Ende der 80er Jahre und in den 90er Jahren näherte sich der rechte Flügel der Bewegung dem bürgerlichen Liberalismus an, während sich revolutionäre Volkstümler dem Marxismus zuwandten.