Außersihl, aus Anlaß eines Kindermordes einen kleinen Italiener-Pogrom. In Frankreich erinnert der Ortsname Aigues-Mortes an die denkwürdige Aufwallung der Arbeitermenge, die, durch die Lohndrückerei der bedürfnislosen italienischen Wanderarbeiter erbittert, ihnen im Stile des Urahnen, des Homo Hauseri aus der Dordogne, höhere Kulturbedürfnisse beibringen wollte. Beim Ausbruch des Weltkrieges haben übrigens auch die Neanderthaltraditionen einen ungeahnten Aufschwung genommen. Die „große Zeit” kündigte sich im Lande der Denker und Dichter durch einen plötzlichen Massenrückfall in die Instinkte der Zeitgenossen des Mammuts, des Höhlenbären und des wollhaarigen Nashorns an.
Immerhin, das zaristische Rußland war noch kein richtiger Kulturstaat, und die Mißhandlung der Fremdvölker war dort, wie jede Art öffentlicher Betätigung, nicht eine Äußerung der Volkspsyche, sondern Regierungsmonopol, pflegte deshalb von der Obrigkeit durch staatliche Organe und mit Hilfe des staatlichen Wodka in passenden Momenten organisiert zu werden.
Der Multaner Ritualmordprozeß war allerdings nur eine kleine, beiläufige Episode der zaristischen Regierungspolitik, die der gedrückten Stimmung der hungrigen und geknebelten Massen wenigstens hier und da mit einer kleinen Ablenkung aufwarten wollte. Aber die russische Intelligenz, und an ihrer Spitze wieder Korolenko, nahm sich der halbwilden Wotjaken an. Korolenko stürzte sich mit seinem ganzen Eifer in die Sache und entwirrte das Netz der Mißverständnisse und der Fälschungen mit einer Sachlichkeit, Geduld und Loyalität, mit einem untrüglichen Instinkt für das Wahre, die an Jaurès in der Dreyfusaffäre[1] erinnern. Korolenko mobilisierte die Presse, die öffentliche Meinung, erzwang ein Wiederaufnahmeverfahren, nahm persönlich auf der Verteidigerbank vor Gericht Platz und erreichte den Freispruch.
Das beliebteste Objekt für die Blitzableiterpolitik war freilich im Osten seit jeher die jüdische Bevölkerung, und es kann noch fraglich erscheinen, ob sie diese dankbare Rolle ganz ausgespielt hat. Es liegt jedenfalls etwas Stilvolles in dem Umstand, daß der letzte große öffentliche Skandal, mit dem sich der Absolutismus von dieser Welt verabschiedete, sozusagen die
[1] Die französischen Sozialisten um Jean Jaurès führten einen leidenschaftlichen und zähen Kampf gegen die großbürgerliche französische Reaktion für die Rehabilitierung des französischen Generalstabsoffiziers Alfred Dreyfus, der 1894 wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslänglicher Deportation verurteilt und 1899 begnadigt worden war. Dreyfus mußte 1906 rehabilitiert werden, als sich die Anklage als Fälschung erwiesen hatte. Dic Dreyfusaffäre hatte zur Zuspitzung des Kampfes zwischen Republikanern und Monarchisten geführt und Frankreich an den Rand eines Bürgerkrieges geführt.