Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 324

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während man, so sehr man’s wünschte, unmöglich den Schuldigen dieser Schrecken verzeihen kann. Neben diesem Gefühl weckt Ihre Schrift noch ein Erstaunen über die selbstbewußte Verblendung von Menschen, die diese Grausamkeiten verüben, über das Sinnlose ihres Tuns, denn es ist klar, daß alle diese dummen Grausamkeiten, wie Sie dies ausgezeichnet dartun, nur das Gegenteil von dem erreichen, was sie bezwecken. Außer all diesen Gefühlen ruft Ihre Schrift noch ein anderes hervor, das mich ganz erfüllt: das Gefühl des Mitleids nicht mit den Gemordeten allein, sondern auch mit jenen getäuschten, einfachen, mißbrauchten Menschen – den Gefängniswärtern, Aufsehern, Henkern, Soldaten –, die all die Scheußlichkeiten verüben, ohne zu wissen, was sie tun.

Erfreulich ist nur dies: daß eine Schrift wie die Ihrige viele, sehr viele lebendige, unverdorbene Menschen in einem gemeinsamen Ideal des Guten und Wahren vereinigt, einem Ideal, das, mögen seine Feinde sich gebärden, wie sie wollen, immer heller und heller aufleuchtet.”

Vor fünfzehn Jahren ungefähr hat eine deutsche Tageszeitung unter den namhaftesten Vertretern der Kunst und Wissenschaft eine Umfrage über die Todesstrafe veranstaltet: Die klangvollsten Namen der Literatur und Jurisprudenz, die Blüte der Intelligenz im Lande der Denker und Dichter hatte sich mit Feuereifer – für die Todesstrafe ausgesprochen. Für denkende Beobachter war dies eines von den Symptomen, die auf manches vorbereiteten, was man während des Weltkrieges in Deutschland erlebte.

In den 90er Jahren spielte sich in Rußland der berühmte Prozeß der „Multaner Wotjaken” ab. Sieben wotjakische Bauern des Dorfes Großer Multan im Gouvernement Wjatka, halbe Heiden und halbe Wilde, wurden des Ritualmordes beschuldigt und zu Zuchthaus verurteilt. Es ist eine der Einrichtungen der modernen Zivilisation, daß die Volksmassen, wenn sie der Schuh aus diesem oder jenem Grunde drückt, von Zeit zu Zeit Angehörige eines anderen Volkes oder anderer Rasse, Religion, Hautfarbe zum Sündenbock machen, an dem sie ihre schlechte Laune auslassen, um darauf erfrischt zum gesitteten Tagewerk zurückzukehren. Es versteht sich, daß sich zur Rolle des Sündenbocks nur schwache, historisch mißhandelte oder sozial zurückgesetzte Nationalitäten eignen, an denen sich, weil sie eben schwach oder von der Geschichte einmal mißhandelt worden sind, auch jede weitere Mißhandlung straflos vornehmen läßt. In den Vereinigten Staaten von Amerika sind es die Neger. In Westeuropa fällt diese Rolle manchmal den Italienern zu.

Vor etwa zwanzig Jahren gab es in dem proletarischen Stadtteil Zürichs,

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