Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 323

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Ermordung ihres Feldwebels, der sie systematisch gepeinigt und mißhandelt hatte, spürte man selbst in der widerstandslosen, gedrückten Stimmung jener Jahre so etwas wie ein Erschauern der öffentlichen Meinung in stummem Entsetzen.

Dies änderte sich seit der Revolution des Jahres 1905. Nachdem die Gewalt des Absolutismus 1907 wieder Oberhand gewonnen hatte, begann eine blutige Racheaktion. Kriegsgerichte arbeiteten Tag und Nacht, die Galgen kamen nicht zur Ruhe. Zu Hunderten wurden Attentäter, Teilnehmer an bewaffneten Revolten, namentlich aber sogenannte „Expropriateure”, meist halbwüchsige Burschen, hingerichtet, häufig mit lässigster Beobachtung der Formalitäten, mit „ungeübten” Henkern, schadhaften Stricken und phantastisch improvisierten Galgen. Die Konterrevolution feierte Orgien.

Da erhob Korolenko seine Stimme zu einem lauten Protest gegen die triumphierende Reaktion. Seine Artikelserie, die 1909 als Broschüre unter dem Titel „Eine alltägliche Erscheinung” herausgegeben wurde, trägt alle typischen Züge seines Schrifttums. Genau wie in der Arbeit über das Hungerjahr und das Cholerajahr findet man hier keine Phrasen, kein lautes Pathos, keine Sentimentalität, nichts als größte Schlichtheit und Sachlichkeit, eine anspruchslose Sammlung tatsächlichen Materials, Briefe der Hingerichteten, Beobachtungen ihrer Zellennachbarn. Diese einfache Materialsammlung zeichnet sich aber aus durch ein tiefes Eindringen in alle Details der menschlichen Qual, in alle Schauer des gepeinigten Menschenherzens und alle Falten des gesellschaftlichen Verbrechens, das in jedem Todesurteile liegt, sie ist von solcher Herzenswärme und hoher Sittlichkeit durchdrungen, daß die kleine Schrift zur erschütternden Anklage wurde.

Tolstoi, der Zweiundachtzigjährige, schrieb an Korolenko unter dem frischen Eindruck jener Artikelserie: „Eben habe ich mir Ihre Schrift über die Todesstrafe vorlesen lassen und konnte mich, sosehr ich mich bemühte, der Tränen, ja des Schluchzens nicht erwehren. Ich finde keine Worte, um Ihnen meine Dankbarkeit und Liebe für diese nach Ausdruck, Gedanken und Gefühl gleich vortreffliche Arbeit auszusprechen.

Sie muß nachgedruckt und in Millionen Exemplaren verbreitet werden. Keine Dumareden, keine Abhandlungen, keine Dramen noch Romane sind imstande, den tausendsten Teil der wohltätigen Wirkung auszuüben, die von dieser Arbeit ausgeht.

Sie muß deshalb so wirken, weil sie ein derartiges Mitleid mit dem erweckt, was jene Opfer des menschlichen Wahns erlebten und noch erleben, daß man ihnen unwillkürlich verzeiht, was sie auch getan haben mögen,

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