Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 310

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die Tuberkulose; sie ist vielmehr die internationalste Einrichtung des gesellschaftlichen Lebens. Nur daß auch sie, trotzdem sie mitten im modernen Leben eine beinahe beherrschende Rolle spielt, offiziell, im Sinne der konventionellen Lüge, nicht als normaler Bestandteil der heutigen Gesellschaft gilt, sondern als angeblich außerhalb ihrer Pfähle befindlich, als ihr Auswurf behandelt wird. Die russische Literatur behandelt die Prostituierte nicht in dem pikanten Stil eines Boudoir-Romans oder mit weinerlicher Sentimentalität der Tendenzbücher, auch nicht als eine geheimnisvolle reißende Bestie, einen „Erdgeist”. Keine Literatur der Welt enthält Schilderungen von grausamerem Realismus als das grandiose Bild der Orgie in den „Karamasows” oder die Tolstoische „Auferstehung”. Der russische Künstler sieht aber in der Prostituierten bei alledem nicht die „Gefallene”, sondern einen Menschen, dessen Psyche, Leiden und innere Kämpfe all sein Mitgefühl beanspruchen. Er adelt die Prostituierte und verschafft ihr Genugtuung für das an ihr begangene Verbrechen der Gesellschaft, indem er sie mit den holdesten und reinsten Typen der Weiblichkeit um das Herz des Mannes wetteifern läßt, er krönt ihr Haupt mit Rosen und erhebt sie, wie Mahadö die Bajadere, aus dem Fegefeuer ihrer Korruption und ihrer seelischen Qualen in die Höhe sittlicher Reinheit und weiblichen Heldentums.

Doch nicht nur krasse Sondererscheinungen auf dem grauen Hintergrund des Alltagslebens, auch dieses Leben selbst, der Durchschnittsmensch mit seiner Misere flößen dem sozial geschärften Blick der russischen Literatur ein tiefes Interesse ein. „Menschliches Glück”, sagt Korolenko in einer seiner Erzählungen, „ehrliches menschliches Glück hat für die Seele etwas Heilendes und Aufrichtendes. Und ich denke mir immer, wissen Sie, daß die Menschen eigentlich verpflichtet sind, glücklich zu sein.” In einer anderen Erzählung, die „Ein Paradox” betitelt ist, legt er einem ohne Arme geborenen Krüppel die Worte in den Mund: „Der Mensch ist für das Glück geschaffen wie der Vogel zum Fliegen.” Im Munde der elenden Mißgeburt ist eine solche Maxime ein offensichtliches „Paradox”. Für Tausende und Millionen von Menschen sind es aber nicht zufällige körperliche Gebrechen, sondern soziale Verhältnisse, die den menschlichen „Beruf zum Glück” ebenso paradoxal erscheinen lassen.

Die Bemerkung Korolenkos enthält in der Tat ein wichtiges Stück sozialer Hygiene: Glück macht die Menschen geistig gesund und rein, wie Sonnenlicht über einem offenen See am wirksamsten das Wasser desinfiziert. Damit ist auch gesagt, daß in abnormen sozialen Verhältnissen – und abnorm sind im Grunde genommen alle auf sozialer Ungleichheit basierten

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