Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 309

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Dostojewski ist durch die Tatsache, daß ein Mensch einen Menschen ermorden kann, daß solches alle Tage neben uns, mitten in unserer „Zivilisation”, Wand an Wand mit unserem bürgerlichen Hausfrieden passieren kann, bis auf den Grund der Seele erschüttert. Wie für Hamlet durch das Verbrechen seiner Mutter alle Bande der Menschheit aufgelöst, die Welt aus den Fugen ist, so für Dostojewski angesichts der Tatsache, daß ein Mensch einen Menschen ermorden kann. Er findet keine Ruhe, er fühlt die Verantwortung, die auf ihm wie auf jedem von uns für dies Entsetzliche lastet. Er muß sich die Psyche des Mörders klarmachen, seinen Leiden, seinen Qualen bis in die verborgenste Falte seines Herzens nachspüren. Er hat diese Foltern alle durchgekostet und ist geblendet durch die furchtbare Erkenntnis: Der Mörder ist selbst das unglücklichste Opfer der Gesellschaft. Nun ruft Dostojewski mit furchtbarer Stimme Alarm, er weckt uns aus der stupiden Gleichgültigkeit des zivilisierten Egoismus, der den Mörder dem Kriminalkommissar, dem Staatsanwalt und dem Henker oder dem Zuchthaus überantwortet und damit erledigt zu haben wähnt. Dostojewski zwingt uns, alle Martern des Mörders mitzuerleben, und wirft uns zum Schluß vernichtet zu Boden: Wer einmal seinen „Raskolnikdw”, wer das Verhör Dimitri Karamasows in der Nacht nach der Ermordung seines Vaters, wer die „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus” erlebt hat, wird sich nie in das Schneckenhaus des Philistertums und des selbstzufriedenen Egoismus mehr zurückfinden können. Die Romane Dostojewskis sind die furchtbarste Anklage gegen die bürgerliche Gesellschaft, der er ins Gesicht schleudert: Der wahre Mörder, der Mörder der Menschenseelen bist du!

Niemand versteht an der Gesellschaft für ihre an dem einzelnen begangenen Verbrechen so grausame Rache zu nehmen, sie so raffiniert auf die Folter zu spannen wie Dostojewski – dies sein spezifisches Talent. Aber alle führenden Geister der russischen Literatur empfinden ebenso den Mord als eine Anklage gegen die bestehenden Verhältnisse, als ein Verbrechen an dem Mörder als Menschen, für das wir alle – jeder einzelne – verantwortlich sind. Daher kehren die größten Talente wie fasziniert immer wieder zum Thema des großen Kriminalverbrechens zurück, um es uns in höchsten Kunstwerken vor die Augen zu führen, uns aus der gedankenlosen Ruhe aufzuscheuchen: Tolstoi in der „Macht der Finsternis” und in der „Auferstehung”, Gorki im „Nachtasyl” und in den „Drei Menschen”, Korolenko in der Erzählung „Der Wald rauscht” und in seinem wunderbaren sibirischen „Totschläger”.

Die Prostitution ist so wenig eine spezifisch russische Erscheinung wie

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