nicht mehr überwinden kann und unter Lebenden wandelt als „ein vom Tode halbverspeister Brocken”. Der Ursprung dieser Dekadenz ist typisch russisch: Es ist das Übermaß an sozialem Mitgefühl, unter dem die Aktions- und Widerstandsfähigkeit des Individuums zusammenbricht.
Dieses soziale Mitgefühl ist es eben, was die Eigenart und künstlerische Größe der russischen Literatur bedingt. Ergreifen und erschüttern kann nur, wer selbst ergriffen und erschüttert ist. Talent und Genie sind freilich in jedem einzelnen Falle eine „Gabe Gottes”. Aber das größte Talent allein reicht zur nachhaltigen Wirkung nicht aus. Wer dürfte dem Abbate Monti Talent oder sogar Genie absprechen, der in Danteschen Terzinen bald die Ermordung des Gesandten der Französischen Revolution durch den römischen Pöbel, bald die Siege dieser Revolution selbst, bald die Österreicher, bald das Direktorium, bald, auf der Flucht vor den Russen, den tollen Suworow, dann wieder Napoleon und wieder den Kaiser Franz besang, jederzeit jedem Sieger mit Nachtigallentönen ins Ohr schluchzend. Wer möchte das große Talent eines Sainte-Beuve, des Schöpfers des literarischen Essays, in Abrede stellen, der mit seiner blendenden Feder so ziemlich in allen politischen Lagern Frankreichs nacheinander Dienste tat, um heute zu verbrennen, was er gestern anbetete, und umgekehrt.
Zur bleibenden Wirkung, zur wirklichen Erziehung der Gesellschaft gehört mehr als Talent: dichterische Persönlichkeit, Charakter, Individualität, die im Felsgrund einer geschlossenen festen Weltanschauung verankert sind. Die Weltanschauung ist es eben, das fein vibrierende soziale Gewissen der russischen Literatur, das ihren Blick für die Psychologie der verschiedenen Charaktere, Typen, sozialen Lagen der Menschen so außerordentlich geschärft, es ist das schmerzlich zuckende Mitfühlen, das ihr bei ihren Schilderungen Farben von dieser’ leuchtenden Pracht eingegeben, es ist das rastlos Suchende, über die gesellschaftlichen Rätsel Grübelnde, was sie befähigt hat, den gesellschaftlichen Bau in seiner ganzen Größe und inneren Verschlungenheit mit künstlerischem Auge zu erschauen und in gewaltigen Werken festzuhalten.
Mord und Verbrechen passieren überall und alle Tage. „Der Friseurgehilfe X hat die Rentiere J. ermordet und beraubt. Die Strafkammer Z. hat ihn zum Tode verurteilt.” Solche Notizen von drei Zeilen „aus dem Reich” liest jeder in seiner Morgenzeitung, streift sie mit gleichgültigem Blick, um weiter nach den letzten Nachrichten vom Rennplatz oder nach dem neuen Wochenspielplan der Theater zu suchen. Wer außer der Kriminalpolizei, den Staatsanwälten und Statistikern interessiert sich für Mordfälle? Höchstens der Detektivroman und das Kinodrama.