Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 307

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-4/seite/307

1er ist das soziale Rezept, das er empfiehlt, Nebensache; die Quelle seiner Kunst, ihr belebender Geist, nicht das Ziel, das er sich bewußt steckt, ist das Ausschlaggebende.

Ebenso kann man in der russischen Literatur, wenn auch in beträchtlich kleinerem Format, eine Richtung finden, die statt der tiefen, weltumspannenden Ideen eines Tolstoi oder Dostojewski bescheidenere Ideale: materielle Kultur, modernen Fortschritt, bürgerliche Tüchtigkeit, propagiert. Zu den talentvollsten Vertretern dieser Richtung gehören von der älteren Generation Gontscharow, von der jüngeren Tschechow. Hat doch letzterer aus Oppositionsgeist gegen die asketisch-moralisierende Tendenz Tolstois seinerzeit den charakteristischen Ausspruch getan: Dampf und Elektrizität enthielten mehr Menschenliebe als geschlechtliche Keuschheit und Vegetarismus. Aber auch diese etwas nüchterne „kulturträgerische” Richtung atmet in Rußland naturgemäß nicht – wie bei französischen oder deutschen Schilderern des juste milieu – satte Philistrosität und Plattheit, sondern jugendlichen, aufrüttelnden Drang. zur Kultur, zur persönlichen Würde und Initiative. Zumal Gontscharow hat sich in seinem „Oblomow” zu einem Bild der menschlichen Indolenz aufgeschwungen, das in der Galerie der großen Menschheitstypen von allgemeiner Gültigkeit einen Platz verdient.

Es gibt in der russischen Literatur endlich auch Vertreter der Dekadenz. Eines der glänzendsten Talente der Gorki-Generation muß hierher gezählt werden: Leonid Andrejew, dessen Kunst eine schaudererregende, modrige Grabluft ausströmt, unter deren Hauch jeder Lebensmut welkt. Aber Wurzel und Wesen dieser russischen Dekadenz sind derjenigen eines Baudelaire oder eines d’Annunzio diametral entgegengesetzt. Hier liegt im Grunde nur Übersättigung mit der modernen Kultur, ein im Ausdruck höchst raffinierter, im Kern sehr robuster Egoismus, der keine Befriedigung im normalen Dasein mehr findet und deshalb nach giftigen Anregungsmitteln greift. Bei Andrejew fließt die Hoffnungslosigkeit aus einem Gemüt, das unter dem Ansturm niederdrückender sozialer Verhältnisse von Schmerz überwältigt ist. Andrejew hat, wie die Besten der russischen Literatur, tief in die mannigfachen Leiden der Menschheit geblickt. Er hat den japanischen Krieg[1], die erste Revolutionsperiode, die Schrecken der Konterrevolution 1907 bis 1911 erlebt und hat sie in erschütternden Bildern wie „Das rote Lachen”, „Die Geschichte von den sieben Gehängten” und anderen mehr geschildert. Nun geht es ihm wie seinem „Lazarus”, der, von der Küste des Schattenreiches zurückgekehrt, den Hauch des Grabes

Nächste Seite »



[1] Der Russisch Japanische Krieg, der vom Februar 1904 bis September 1905 um die Vorherrschaft über Gebiete Chinas geführt wurde, endete mit einer Niederlage Rußlands.