Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 306

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von Herzen, wie Dostojewski, Tschernyschewski, Schewtschenko, Korolenko.

Turgenjew erzählt gelegentlich, daß er zum erstenmal irgendwo bei Berlin das Trillern der Lerche mit vollem Bewußtsein genossen habe. Diese beiläufige Bemerkung scheint mir sehr charakteristisch. Die Lerchen trillern in Rußland nicht weniger schön als in Deutschland. Das gewaltige russische Reich birgt so viele und so mannigfaltige Naturschönheiten, daß ein empfängliches poetisches Gemüt auf jedem Schritt Gelegenheit findet, im Gefühl der Naturfreude restlos aufzugehen. Was einen Turgenjew an dem ungetrübten Genuß der Naturschönheit in seinem eigenen Vaterlande hinderte, war eben die peinigende Disharmonie der gesellschaftlichen Verhältnisse, das ständige drückende Gefühl der Verantwortlichkeit für die schreienden sozialen und politischen Zustände, das man nie loswerden konnte und das, tief im Innern bohrend, keinen Augenblick völligen Selbstvergessens aufkommen ließ. Erst im Auslande, wenn er die tausend niederdrückenden Bilder der Heimat hinter sich gelassen hatte und fremden Verhältnissen gegenüberstand, deren wohlgeordnete Außenseite und materielle Kultur den Russen seit jeher naiv imponierte, vermochte ein russischer Dichter sich unbekümmert aus voller Brust dem Gefühl der Naturfreude hinzugeben.

Nichts irriger freilich, als sich danach die russische Literatur als Tendenzkunst in rohem Sinne, schmetternde Freiheitsfanfare, Armeleutemalerei vorzustellen oder gar alle russischen Dichter für Revolutionäre, zum mindesten für Fortschrittler zu halten. Schablonen wie „Reaktionär” oder „Fortschrittler” besagen an sich in der Kunst noch wenig.

Dostojewski ist, zumal in seinen späteren Schriften, ausgesprochener Reaktionär, frömmelnder Mystiker und Sozialistenhasser. Seine Schilderungen der russischen Revolutionäre sind boshafte Karikaturen. Tolstois mystische Lehren schillern zum mindesten in reaktionären Tendenzen. Und doch wirken auf uns beide in ihren Werken aufrüttelnd, erhebend, befreiend. Das macht, nicht ihr Ausgangspunkt ist reaktionär, nicht sozialer Haß, Engherzigkeit, Kastenegoismus, Festhalten an dem Bestehenden beherrschen ihr Denken und Fühlen, sondern umgekehrt weitherzigste Menschenliebe und tiefstes Verantwortlichkeitsgefühl für soziales Unrecht. Gerade der Reaktionär Dostojewski ist der künstlerische Anwalt der „Erniedrigten und Beleidigten”, wie der Titel eines seiner Werke lautet. Nur die Schlüsse, zu denen er wie Tolstoi, jeder in seiner Art, gelangen, nur der Ausweg, den sie aus dem gesellschaftlichen Labyrinth zu finden glauben, führt auf Abwege der Mystik und Askese. Doch beim wahren Künst-

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