Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 305

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der russischen Gesellschaft, wobei er zeigt, wie gerade seine Generation die „leibeigene” Psychologie überwunden hatte und von einer neuen Zeitströmung ergriffen wurde, deren vorherrschende Note der „zernagende, qualvolle, aber schöpferische Geist der sozialen Verantwortlichkeit” war.

Diesen hohen Bürgersinn in der russischen Gesellschaft geweckt, die tiefste psychologische Wurzel des Absolutismus unterwühlt zu haben ist das Verdienst der russischen Literatur. Sie hat ihrerseits von Anbeginn ihrer Laufbahn, seit Anfang des 19. Jahrhunderts, nie die soziale Verantwortlichkeit verleugnet, nie den zernagenden, qualvollen Geist der gesellschaftlichen Kritik vergessen.

Seit sie mit Puschkin und Lermontow in unvergleichlichem Glanz eine sichtbare Fahne vor der Gesellschaft aufgerollt hatte, war ihr Lebensprinzip der Kampf gegen Finsternis, Unkultur und Bedrückung. Sie rüttelte mit verzweifelter Kraft an den sozialen und politischen Ketten, scheuerte sich an ihnen wund und zahlte ehrlich die Kosten des Kampfes mit ihrem Herzblut.

In keinem anderen Lande ist eine so auffallende Kurzlebigkeit der hervorragendsten Vertreter der Literatur zu beobachten wie in Rußland. Zu Dutzenden starben und verdarben sie im blühenden Mannesalter, fast noch im Jünglingsalter von 25, 27 Jahren oder, wenn es hoch ging, kaum über 40 Jahre alt durch den Strang, durch direkten oder als Duell verkleideten Selbstmord, Irrsinn, vorzeitige Erschöpfung. So der edle Freiheitsdichter Rylejew, der als Führer des Dekabristenaufstandes[1] im Jahre 1826 hingerichtet wurde. So Puschkin und Lermontow, die genialen Schöpf er der russischen Dichtkunst – beide Opfer des Duells – mit ihrem ganzen Kreis aufblühender Talente. So der Begründer der literarischen Kritik und Verfechter der Hegelschen Philosophie in Rußland, Belinski, sowie Dobroljubow. So der ausgezeichnete zarte Poet Kolzow, dessen Lieder vielfach wie verwilderte Gärtnerblumen in die russische Volkspoesie hineingewachsen sind. So der Schöpfer der russischen Komödie, Gribojedow, und sein größerer Nachfolger, Gogol. So erst wieder in neuerer Zeit die beiden glänzenden Novellendichter Garschin und Tschechow. Andere schmachteten Jahrzehnte im Kerker, im Zuchthause, in der Verbannung, wie der Begründer der russischen Journalistik, Nowikow, wie der Dekabristenführer Bestushew, wie Fürst Odojewski, Alexander

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[1] Im Dezember 1825 hatten sich Regimenter in Petersburg und das Tschernigower Regiment in der Ukraine, geführt von adligen Revolutionären, zur Beseitigung der Selbstherrschaft und der Leibeigenschaft, für bürgerliche Freiheiten und für die Einberufung einer konstituierenden Versammlung erhoben. Die Aufstände der Dekabristen, die keine Verbindung zu den Volksmassen besaßen, wurden von den zaristischen Truppen niedergeschlagen.