Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 304

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In seinen Erinnerungen charakterisiert Korolenko seinen Vater, einen Staatsbeamten aus der Zeit der Leibeigenschaft in Rußland, als typischen Vertreter der Psychologie ehrlicher Leute jener Generation. Vater Korolenko fühlte sich lediglich für seine persönlichen Handlungen verantwortlich. Das nagende Gefühl der Verantwortlichkeit für das soziale Unrecht war ihm fremd. „Gott, Zar und Gesetz” waren für ihn über jede Kritik erhaben. Als Kreisrichter fühlte er sich nur berufen, die Gesetze mit peinlichster Gewissenhaftigkeit zur Anwendung zu bringen. „Daß die Gesetze selbst untauglich sein mögen, das schlägt hinwiederum in die Verantwortlichkeit des Zaren vor dem Herrgott – er, der Richter, ist für die Gesetze so wenig verantwortlich wie dafür, daß der Blitz vom hohen Himmel manchmal ein unschuldiges Kindlein erschlägt.” Die sozialen Zustände im ganzen gehörten für die Generation der 40er und 50er Jahre in Rußland in den Bereich des Elementaren, Unerschütterlichen; das widerstandslose Milieu wußte sich unter der Zuchtrute der Obrigkeit nur wie unter dem Anprall des Wirbelwindes zu beugen, hoffend und harrend, daß das Ungemach vorübergehen möge. „Ja”, sagt Korolenko, „das war eine Weltanschauung aus einem Guß, eine Art unerschütterlichen Gleichgewichts der Gewissen. Ihre inneren Grundlagen wurden nicht durch Selbstanalyse unterwühlt, und die ehrlichen Leute jener Zeit kannten den tiefen inneren Zwiespalt nicht, der sich aus dem Gefühl der persönlichen Verantwortlichkeit für die ganze Gesellschaftsordnung ergibt.” Nur eine solche Weltanschauung sei das echte Fundament des Gottesgnadentums, und solange diese Weltanschauung noch fest und unerschütterlich bestehe, sei die Macht des Absolutismus groß.

Es wäre verfehlt, die von Korolenko charakterisierte Psychologie als spezifisch russisch oder nur mit der Periode der Leibeigenschaft verbunden zu betrachten. Jene Stimmung der Gesellschaft, die, frei von nagender Selbstanalyse und innerem Zwiespalt, die „gottgewollten Abhängigkeiten” wie etwas Elementares empfindet und die Fügungen der Geschichte als eine Art Himmelsschickung hinnimmt, für die man so wenig verantwortlich sei wie dafür, daß der Blitz manchmal ein unschuldiges Kindlein erschlägt, kann sich mit verschiedensten politischen und sozialen Systemen vertragen. Sie ist auch in der Tat noch unter modernen Verhältnissen anzutreffen, sie war namentlich bezeichnend für die Psychologie der deutschen Gesellschaft während der ganzen Dauer des Weltkrieges.

In Rußland fing dieses „unerschütterliche Gleichgewicht der Gewissen” in breiten Kreisen der Intelligenz schon in den 60er Jahren zu bröckeln an. Korolenko schildert in anschaulicher Weise jenen geistigen Umschwung

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