Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 31

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-4/seite/31

weder – Oder: entweder Bethmann Hollweg oder – Liebknecht. Entweder Imperialismus oder Sozialismus, wie ihn Marx verstand.

Wie in Marx selbst der scharfe historische Analytiker und der kühne Revolutionär, der Mann des Gedankens und der Mann der Tat, unzertrennlich miteinander verbunden waren, einander unterstützten und ergänzten, so hatte der Marxismus als sozialistische Lehre zum ersten Male in der Geschichte der modernen Arbeiterbewegung die theoretische Erkenntnis mit der revolutionären Tatkraft des Proletariats gepaart, die eine durch die andere durchleuchtet und befruchtet. Beide gehören gleichmäßig zum innersten Wesen des Marxismus; jede, getrennt von der anderen, verwandelt den Marxismus in ein trauriges Zerrbild seiner selbst. Die deutsche Sozialdemokratie hat im Laufe eines halben Jahrhunderts von der theoretischen Erkenntnis des Marxismus die reichsten Früchte geerntet, durch ihre Säfte einen mächtigen Körper großgezogen. Gestellt vor die größte historische Probe, eine Probe, die sie obendrein theoretisch mit der Sicherheit eines Naturforschers vorausgesehen und in allen wesentlichen Zügen vorausgesagt hatte, versagte ihr völlig das zweite Lebenselement der Arbeiterbewegung: der tatkräftige Wille, um die Geschichte nicht bloß zu verstehen, sondern sie auch zu machen. Mitsamt ihrer mustergültigen theoretischen Erkenntnis und organisatorischen Kraft wurde sie, vom Wirbel des geschichtlichen Stroms erfaßt, im Nu wie ein steuerloses Wrack umgedreht und unter die Winde des Imperialismus gestellt, gegen die sie sich zum rettenden Eiland des Sozialismus vorwärtsarbeiten sollte. Das Debakel der gesamten Internationale war schon mit diesem Mißgeschick ihres „Vortrupps”, ihrer geschultesten, stärksten Elite selbst ohne die Irrungen anderer gegeben.

Ein welthistorischer Kataklysmus ersten Ranges, der die Befreiung der Menschheit von der blut- und schmutztriefenden Herrschaft des Kapitalismus in gefährlicher Weise kompliziert und verzögert. Wenn es aber so kommen mußte, so ist dennoch der Marxismus daran völlig unschuldig. Und alle Versuche, ihn heute dem momentanen Marasmus der sozialistischen Praxis anzupassen, ihn zum feilen Apologetentum des Sozialimperialismus zu prostituieren, sind gefährlicher selbst als alle offenen und schamlosen Exzesse der nationalistischen Verirrung in den Reihen der Partei; diese Versuche führen dahin, nicht bloß die wirklichen Ursachen des tiefen Falls der Internationale zu verbergen, sondern auch die Quellen einer künftigen Aufrichtung aus diesem Fall zu verschütten. Die Internationale wie ein Friede, der dem Interesse der proletarischen Sache entspricht, können nur aus der Selbstkritik des Proletariats geboren werden,

Nächste Seite »