Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 284

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am meisten beiträgt, ist die vom russischen Arbeiter- und Soldatenrat aufgebrachte Formel: Friede ohne Annexionen und Entschädigungen auf Grund des Selbstbestimmungsrechts der Nationen.

Bei dem russischen Proletariat liegt das Schwergewicht natürlich nicht in dieser Formel, sondern in der Tatsache, daß es der Bourgeoisie seines Landes überhaupt seine eigene Friedenspolitik aufgezwungen hat. In Rußland ist die vollzogene Revolution und die Machtstellung der sozialistischen Arbeiterschaft, die hinter jener Friedensformel steht, der wirkliche Friedensfaktor.

Was die Zauberformel an sich betrifft, die im übrigen Europa von den Sozialisten mit Jubel aufgegriffen worden ist, so hat sie mit sozialistischer Politik nicht das geringste zu tun. Sie ist die Formel eines negativen Ergebnisses des Weltkrieges, einer fehlgeschlagenen, unentschiedenen Kraftprobe des Imperialismus, sie ist die Formel der für später aufgeschobenen Entscheidung, der Erholungspause der Militärmächte bis zum nächsten Tanz. Diese Formel entspricht auch tatsächlich in erster Linie der heutigen Lage und den Bedürfnissen des deutschen Imperialismus, der bereits eingesehen hat, daß er diesmal seine Weitherrschaftspläne nicht wird durchsetzen können, und nur darauf bedacht ist, sich so bald als möglich aus der Patsche zu ziehen. Die Ententeregierungen, die noch auf entscheidenden militärischen Erfolg hoffen, wollen von dieser Formel einstweilen nichts wissen. Bei der tatsächlichen Unlösbarkeit des blutigen Streites auf militärischem Wege entspricht jedoch die Formel „Keine Annexionen, keine Entschädigungen” objektiv den Interessen der herrschenden Klassen aller Länder und führt in ihrem positiven Inhalt zur Wiederherstellung des Status quo. Was bedeutet aber die Rückkehr zum Zustand vor dem Kriege? Es ist die Wiederherstellung der Machtverhältnisse vor Ausbruch des Weltkrieges, also Wiederherstellung der alten Staatsgrenzen, d. h. der alten Annexionen, der früheren Kolonialbesitzungen, der früheren Hegemonie der großen Militärstaaten, ihrer früheren ökonomischen Herrschaft über die „Interessensphären”, kurz, die Wiederherstellung der ganzen durch eine lange Kette früherer Kriege und der jüngsten imperialistischen Entwicklung geschaffenen Zustände. Und dieser Status quo schließt zusammen mit alten Staatengrenzen und alten Machtverhältnissen nach außen selbstverständlich die alten Machtverhältnisse im Innern: die bürgerliche Klassenherrschaft, den kapitalistischen Staat und den Imperialismus als allbeherrschende Macht, als allgemeine Grundlage ein.

Dies ist der positive Inhalt der bezaubernden negativen Formel. Die Selbstverständlichkeit, mit der hier sozialistische Parteien auf ihre Fahne

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