Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 272

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rednerischen Leistungen billige Kritik geübt werden. In diesem Ausweichen jeder gründlichen Auseinandersetzung mit der vergangenen Praxis liegt vielmehr ein wesentliches Symptom der Gothaer Tagung, darin kommt zum Ausdruck die besondere politische Physiognomie der Arbeitsgemeinschaft und damit der neuen Partei in ihrem offiziellen Zuschnitt von der Geburt an. Statt sich von der Vergangenheit kritisch abzugrenzen, suchte man umgekehrt in jeder Hinsicht sich an ihre überlebten und ausgehöhlten Formeln und Schemata anzuklammern. Das Erfurter Programm und die nationalen und internationalen Kongreßbeschlüsse – dies sollte die Losung der neuen Partei sein, was immer wieder betont wurde. Aber was bedeuten heute noch diese Worte, nachdem die Regierungssozialisten sie ebensogut als Flagge für ihre Bannware benutzen und nachdem – was das Entscheidende – weder das Erfurter Programm noch die nationalen und Internationalen Beschlüsse den betäubenden Bankerott der Arbeiterbewegung haben verhüten können. Es muß doch heute für jedes Kind klar sein, daß unter der Fahne des Parteiprogramms und der Kongreßbeschlüsse die gesamte Arbeiterbewegung eine falsche Richtung genommen hatte, die zum Abgrund führte. Worauf es also ankam, war, endlich aus dem Zwielicht der Formeln herauszutreten, die Praxis, die mit dem Zusammenbruch endete, zu beleuchten, neue Wege einzuschlagen. Statt dessen suchte die Arbeitsgemeinschaft in Gotha krampfhaft in allem an das Alte anzuknüpfen, sich als eine einfache Fortsetzung, als Restauration der alten Partei zu organisieren. So war es typische Fortsetzung der alten Traditionen der deutschen Parteitage, die tiefgehenden Meinungsverschiedenheiten in den Reihen der neuen Partei als bloße „Mißverständnisse” zu kennzeichnen, die hinwegzureden eben Aufgabe der Tagung wäre. So war auch das Referat Ledebours – ganz abgesehen von schreienden Irrtümern in einzelnen Fragen – in seinem allgemeinen Zuschnitt nur einfacher Abklatsch der üblichen taktischen Referate ehemaliger Parteitage: Parlamentarismus und nichts als Parlamentarismus. Und so war der durch Dittmann vertretene Organisationsentwurf nichts als Abklatsch des alten Parteistatuts.

Was man so beim Ausgangspunkt an den Wurzeln verabsäumt hatte, suchte man nachher im Windmühlenkampf gegen äußere Auswüchse nachzuholen. Das krampfhafte Bemühen, sich des Bürokratismus der alten Partei durch rein mechanische Mittel des Organisationsstatuts zu erwehren, wirkte wie ein tragikomisches Schlagen nach dem eigenen Schatten, nachdem die Führer der Opposition von der Arbeitsgemeinschaft es geflissentlich vermieden hatten, die politischen Wurzeln des Bürokratismus

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